Formel 1:Veränderte Perspektiven

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Gruß in den Himmel: Rennsieger Charles Leclerc gedenkt seines am Samstag tödlich verunglückten Freundes Anthoine Hubert. (Foto: Zheng Huansong/imago)

"Wir haben einen Freund verloren, und ich widme ihm meinen ersten Sieg": Leclercs emotionaler Sieg beim Formel-1-Rennen in Spa kommt für Ferrari gerade recht.

Von Anna Dreher, Spa-Francorchamps

Als Charles Leclerc am Sonntag seinen roten Rennwagen hinter dem Schild mit der Nummer 1 geparkt hatte, hielt er kurz inne. Er schraubte sein Lenkrad ab, um aussteigen zu können; als er in seinem Cockpit stand, ballte er die rechte Hand zur Faust, streckte seinen Arm aus und deutete mit dem Zeigefinger in den Himmel. Kurz schaute er nach oben, dann senkte Leclerc seinen Kopf; er winkte einen Kameramann zu sich und stellte sich vor die linke Seite seines Ferrari, wo er auf einen Sticker zeigte. Neben einem großen Stern stand der Name jenes Menschen, dem Leclerc diesen Sieg beim Großen Preis von Belgien gewidmet hat, seinen ersten in der Formel 1: "Racing for Anthoine".

Für Leclerc, 21, ist am Wochenende in Spa-Francorchamps ein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen. Er hat in seinem zweiten Jahr in der Formel 1 und seinem ersten bei Ferrari das geschafft, was er schon lange erreichen wollte - und sich doch ganz anders vorgestellt hatte. Bei der Siegerehrung verzichteten er, Lewis Hamilton und Valtteri Bottas auf die übliche Champagnerdusche. "Es war ein sehr schwieriges Wochenende. Wir haben einen Freund verloren, und ich widme ihm meinen ersten Sieg", sagte er: "Ich kann meinen Sieg nicht wirklich genießen, aber in zwei, drei Wochen realisiere ich hoffentlich, was heute passiert ist."

Am Samstag war der 22 Jahre alte Franzose Anthoine Hubert nach einer Kollision mit Juan-Manuel Correa beim Formel-2- Rennen ums Leben gekommen. Der Amerikaner erlitt mehrere Brüche in den Beinen sowie Verletzungen an der Wirbelsäule; er wird noch auf der Intensivstation behandelt. Der Automobilweltverband Fia und die belgische Justiz haben Untersuchungen eingeleitet. In die Trauer über Huberts Tod mischte sich im Fahrerlager auch eine Sicherheitsdebatte. "Die Sicherheit wird ohnehin ständig verbessert, das ist ein fortlaufender Prozess", sagte der Fia-Renndirektor Michael Masi: "Wir müssen abwarten, welche Schlüsse sich aus dem Unfall in Spa ergeben, dann können wir weitere Maßnahmen diskutieren."

Mit Hubert und den beiden Formel-1- Fahrern Pierre Gasly und Esteban Ocon hatte Leclerc einst im Motorsport angefangen, 2005 in der französischen Kartmeisterschaft. Nur einen Tag nach Huberts Tod musste Leclerc 44 Runden lang ausblenden, was passiert war. 44 Runden, in denen er jedes Mal mit rund 300 Kilometern pro Stunde durch die Kurve Eau Rouge raste, die von den Fahrern inzwischen fast schon wie eine Gerade angegangen wird. Es ist die Stelle, an der Hubert gestorben war. "Ich kann nicht glauben, dass das passiert ist. Aber im Auto musst du all deine Gefühle beiseiteschieben", sagte Leclerc. "Erst als ich über die Ziellinie gefahren bin, kamen all die Emotionen wieder zurück."

Es sind Lebenserfahrungen wie diese, die Leclerc zu einem außergewöhnlichen Rennfahrer gemacht haben. Dass er es erneut geschafft hat, nach einem schweren persönlichen Verlust eine solche Leistung auf der Strecke zu zeigen, ist bemerkenswert. Im Sommer 2017 ist Leclercs schwerkranker Vater Hervé gestorben, nur drei Tage später gewann Charles Leclerc in Baku das Formel-2-Rennen und sagte: "Er hätte gewollt, dass ich das Rennen für ihn gewinne." Er habe sich nicht ablenken lassen dürfen, weil das Rennfahren alles für seinen Vater gewesen sei. Zwei Jahre vor diesem schweren Schlag starb sein bester Freund und Patenonkel, der Formel-1-Fahrer Jules Bianchi. Im Oktober 2014 war dieser beim Großen Preis von Japan in einen Bergungskran gerast, er erlag nach neun Monaten im künstlichen Koma seinen Kopfverletzungen.

Die Zuversicht ist zurück: "Ferrari blickt endlich in die Zukunft."

Leclerc ist, wie er selbst sagt, durch diese Erfahrungen stärker geworden, seine Perspektive auf das Leben hat sich verändert, auch was den Motorsport betrifft. In seiner ersten Saison als Teamkollege von Sebastian Vettel ist es nun er, der Ferrari den ersten Saisonsieg beschert - und nicht der viermalige Weltmeister aus Deutschland, an den der Rennstall die Hoffnung auf einen WM-Titel knüpfte und den er einst zur internen Nummer eins erkoren hatte. In Spa musste Vettel dabei helfen, Leclercs Sieg zu sichern. Hat sich die Hierarchie nun gedreht? "Charles, der Große! Ferrari blickt endlich in die Zukunft", befand jedenfalls die italienische Zeitung Corriere dello Sport, und: "Nach 13 Grands Prix hat Ferrari begriffen, dass Leclerc der geeignete Mann ist, um das Erbe Maranellos in die Hand zu nehmen."

Denn auch wenn die Tragik der Ereignisse den Erfolg Leclercs, den Erfolg Ferraris, überschattete: Für das stolze Traditionsteam war der Sieg des Monegassen - der erste für das Team seit Kimi Räikkönen in Austin 2018 - die lang ersehnte Demonstration alter Stärke nach einer Saison, in der Mercedes mit zehn Siegen in zwölf Rennen bislang eine erdrückende Dominanz gezeigt hat. Und das eine Woche vor dem Heimrennen in Monza.

© SZ vom 03.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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