Formel 1 in Spielberg:Zum Glück: Rennfahrer dürfen Rennen fahren

F1 Grand Prix of Austria

Hartes Duell um den Sieg: Max Verstappen (rechts) gegen Charles Leclerc.

(Foto: Getty Images)

Die Kommissare lassen nach dreistündiger Beratung Max Verstappen seinen Sieg in Spielberg trotz eines harten Manövers gegen Ferraris Charles Leclerc. Es ist ein weises Urteil.

Kommentar von Philipp Schneider

Länger als drei Stunden berieten die Kommissare am Sonntag nach Rennende in Spielberg über die Frage, ob sie Max Verstappen seinen schwer verdienten Pokal noch aus den Händen reißen sollten. 190 Minuten! In der Zeit hätten sie sich Francis Ford Coppolas Klassiker "Apocalypse Now" aus dem Jahr 1979 ansehen können. Und zwar in der "Final Cut"-Version, die gerade in den Kinos spielt. Länger als drei Stunden, das bedeutete, dass ein Verstappen-Fan, der gleich nach der Siegerehrung in sein Auto gestiegen wäre, auf seiner Heimreise nach Utrecht schon bald auf der Höhe von München gewesen wäre, wenn er im Radio erfahren hätte, dass er sich im siegestrunkenen Oranjejubel völlig umsonst heiser gekrächzt hätte.

Zur Verteidigung der Kommissare muss vorgebracht werden, dass sie sich sicher nicht drei Stunden lang Gebäck und Käffchen reichen ließen. Sie werden sich Verstappens Überholmanöver von Charles Leclerc drei Runden vor Schluss schon immer und immer wieder angeschaut haben. Und sie wollten beide Piloten vor ihrem Beschluss noch anhören, weswegen sie ihrerseits die Siegerehrung und auch die Pressekonferenz mit Verstappen und Leclerc noch abwarten mussten.

Dennoch: Wenn der Gewinner drei Stunden nach dem Ende einer Sportveranstaltung noch nicht feststeht und es keinen Verstoß wegen grober Unsportlichkeit gegeben hat, läuft dann nicht irgendetwas schief in einem Sport?

Zwei Probleme hatten die Kommissare am Sonntag aus dem Weg zu räumen. Das eine findet sich im Anhang L des Internationalen Sportgesetzes des Weltverbandes Fia. In Kapitel IV, "Fahrvorschriften bei Rundstreckenrennen", heißt es: "Es ist zu keinem Zeitpunkt erlaubt, ein Fahrzeug unnötigerweise langsam, unberechenbar oder auf eine für andere Fahrer als gefährdend anzusehenden Art und Weise zu fahren." Und: "Jeder Fahrer, der auf die Ideallinie zurückkehrt, nachdem er zuvor seine Position abseits der Ideallinie verteidigt hat, sollte bei Anfahrt auf die Kurve mindestens eine Fahrzeuglänge zwischen seinem eigenen Fahrzeug und der Streckenbegrenzung belassen. Eine Fahrweise, die andere Fahrer jedoch behindern könnte, wie zum Beispiel das absichtliche Drängen eines Fahrzeugs über den Streckenrand hinaus oder jeder andere ungewöhnliche Richtungswechsel, ist strikt verboten." Auch "die Verursachung einer Kollision" ist selbstredend untersagt.

Drei Runden vor Rennende hatte sich Verstappen auf der Innenseite von Kurve drei neben den Führenden Leclerc gepresst. In der Folge ließ er seinen Red Bull weit nach außen treiben - und hatte so Leclercs Ferrari über den Streckenrand hinausgedrängt. Nicht allerdings, bevor es eine Kollision gegeben hatte und die Autos sich berührten.

Das Reglement hätte garantiert genug Vorschriften enthalten, um Verstappen den Sieg nachträglich zu entreißen. Dass die Kommissare dies nicht taten, dass sie nicht auf den Paragrafen herumritten, dass sie die Szene als gewöhnlichen "Rennvorfall" einstuften, war richtig. Sie urteilten, keiner der Fahrer sei für den Unfall "alleine oder überwiegend verantwortlich" zu machen. Verstappen selbst hatte für diese Argumentation die Grundlage geliefert. Er wies darauf hin, dass er tiefer in die Kurve hineingebremst hatte als bei einem vorherigen Versuch. Und so lag sein Auto am Scheitelpunkt der Kurve diesmal vor dem von Leclerc - weswegen dieser hätte zurückziehen müssen.

Die Kommissare urteilten weise. Vielleicht auch, weil sie noch ein zweites Problem aus dem Weg räumen mussten: die am Sonntag noch immer nicht verstummte Debatte über die Sinnhaftigkeit der Bestrafung von Sebastian Vettel im Rennen von Kanada. In Montreal hatten sie die Paragrafen noch sehr, sehr ernst genommen. Sie hatten Vettel nach seinem Ausritt über den Grünstreifen wegen einer "nicht sicheren Rückkehr" auf die Strecke des Sieges beraubt. Die Szenen von Kanada und Österreich sind nicht zu vergleichen. Aber Vettel hatte daraufhin die Frage aufgeworfen, ob das gesamte Regelwerk nicht besser den Flammen anvertraut werden solle, damit jemand ein gescheiteres neues schreiben möge. Das war zumindest mal ein herrlicher Debattenbeitrag.

Dass sich Vettel am Sonntag, ohne dass er die Szene zwischen Leclerc und Verstappen bereits gesehen hatte, erneut mit Verve in die Bresche seiner Lieblingsthese warf, man solle die Rennfahrer doch bitte einfach Rennen fahren lassen und den Kommissaren die Macht entreißen, zeigt die Ernsthaftigkeit seiner Mission. Dass er dafür erneut wunderbare Worte fand ("Ich mag es nicht, dass die Entscheidung an jemanden weitergegeben wird, der auf einem Stuhl sitzt. Wir kämpfen nicht um den Kindergartenpokal"), lässt hoffen, dass er seine Mission weiterverfolgt.

Seinen Teamchef Mattia Binotto hat er bereits auf seine Seite gezogen. Das Reglement sei klar, Verstappen habe die Kollision verursacht und Leclerc neben die Strecke gezwungen, sagte Binotto. Das verletze die aktuellen Regeln, "egal, ob man sie mag, oder auch nicht". Von einem Protest wolle er diesmal absehen. Im Falle des Kanada-Urteils habe Ferrari schließlich eine Revision angestrebt und betont, man solle die Fahrer gegeneinander kämpfen lassen.

Red Bull sieht es so. Ferrari sieht es so. Die Kommissare sehen es so. Jetzt muss es nur noch das Regelwerk so sehen.

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