Die Krise von Red Bull Racing rein statistisch zu beweisen, fällt schwer. Am Sonntag gab es im zehnten Rennen den siebten Sieg von Max Verstappen. Beim Großen Preis von Spanien taugten allein jene 2,2 Sekunden Vorsprung auf Lando Norris im McLaren als Indiz dafür, dass der Weltmeister womöglich noch ein schweres Jahr bis zur Titelverteidigung vor sich hat. Ein Stück harte Arbeit, aber am Ende konnte der Fahrer den Nachteil des Autos einmal mehr wettmachen. Auch Lewis Hamilton hat bewiesen, dass er sich durchbeißen kann – erstmals in dieser Saison steht der Rekordweltmeister auf dem Podium. Das sind die Komponenten für andauernde Spannung: Norris mag das überragende Auto haben, Red Bull besitzt den überragenden Fahrer. „Ich hätte gewinnen müssen“, gibt der Brite zu.
600 Meter geradeaus – es ist der längste Weg vom Start bis zur ersten Kurve in der ganzen Saison. Norris und Verstappen hatten in der Qualifikation auf dem Circuit Catalunya-Barcelona nur 0,2 Tausendstelsekunden oder umgerechnet 1,30 Meter getrennt, Ausdruck der neuen Leistungsdichte an der Spitze der Formel 1. Der zehnte WM-Lauf begann dann mit einem Rad-an-Rad-Duell zwischen dem Aufsteiger im McLaren und dem Weltmeister im Red-Bull-Honda, sie rasten Kopf an Kopf auf den Rechtsbogen zu, rangelten, drängten, es war eine Frage wie bei James Dean: Wer bremst als Letzter? Die überraschende Antwort vor 125 000 Zuschauern: George Russell im Silberpfeil, der von Position vier aus außen herum an beiden vorbeischoss. Zwei Runden lang währte die silberne Herrlichkeit, dann ging Verstappen aus dem Windschatten heraus vorbei, ebenfalls außen, Ehre wiederhergestellt.
Das größte Drama in Barcelona ist der Küchenbrand im Fahrerlager von McLaren
Drei klassische Rennstrecken innerhalb von drei Wochen stehen in Kalender, sie könnten zeigen, wie es um die Kräfteverhältnisse wirklich bestellt ist. Nervös waren deshalb alle: Red Bull, das mit einem ungewohnt zickigen Auto haderte, McLaren hatte das beste technische Upgrade im Frühjahr, Ferrari ist auf der Suche nach mehr Konstanz, Mercedes spürte einen leichten Aufwärtstrend. Klar war vor den 66 Runden nur, dass es sich längst nicht mehr nur um eine gefühlte Wahrheit handelt, dass derzeit die spannendste Grand-Prix-Saison seit Jahren zu erleben ist.
Rennen vor den Toren Barcelonas auf der ehemaligen Lieblings-Teststrecke der Königsklasse gehören leider selten zu den spannendsten, weshalb auch diesmal das größte Drama der Küchenbrand bei McLaren im Fahrerlager blieb. „Feuer im Motorhome, Feuer auf der Piste“, dichtete Rennstallboss Zak Brown und entschuldigte sich gleich wieder für den matten Witz. Auf der Strecke ist die Reifenfrage noch wichtiger als anderswo.
Russell eröffnete den ersten Boxenreigen, er wollte mit einem sogenannten Undercut näher an Verstappen heran und vor Norris bleiben. Doch der Reifenwechsel verlief dafür zu schleppend. Sollte Norris reagieren, um vor Russell zu bleiben? „Lasst mich draußen, ich will mir Max schnappen“, funkte der zurück. Dafür kam der Niederländer rein, mit fünf Sekunden Vorsprung. Norris dehnte seine freie Fahrt an der Spitze dennoch weiter aus, obwohl die Pneus abgefahren waren. Ein gewagter Poker mit Blick auf einen Schlussspurt, daraus resultierte die Spannung des Rennens.
Verstappen sieht zufrieden, wie sich seine Verfolger die Punkte wegnehmen
Nach dem ersten Drittel kam der Brite endlich rein, fiel auf den sechsten Rang zurück, die Jagd begann aufs Neue. Zehn Sekunden trennten ihn nun von der Spitze. Das zwang zum Überholen, die Fans lechzten nach diesem Aktionismus. Norris jagte im Kampf um Rang drei Lewis Hamilton, ging zur Rennmitte vorbei, vor ihm lag Russell im zweiten Silberpfeil. Das freute nicht nur die auf den Tribünen, weil weder Carlos Sainz jr. noch Fernando Alonso eine Rolle spielten, sondern vor allem Spitzenreiter Verstappen. Bei allem Krisengerede war er selbst tadellos geblieben und betrachtete zufrieden, wie sich seine Verfolger gegenseitig die Punkte wegnahmen und dabei aufrieben.
Nach der erst zweiten Pole-Position seiner Karriere wollte es Lando Norris unbedingt wissen, knabberte Runde für Runde Sekundenbruchteile zur Spitze ab. Auch, weil sich Max Verstappen mit seinen Gummis quälte und mit Beginn des letzten Renndrittels letztmals frische Reifen holte. „Das ist unsere Chance jetzt“, funkte der Ingenieur von Norris ins Cockpit. Acht Sekunden Rückstand bei noch 17 Runden. Red Bull entging die Aggressivität der Gegner nicht, und wies Verstappen an: „All Corners!“ Das ist das Codewort dafür, nichts mehr aufzusparen. Der Vorsprung schrumpfte, aber er blieb immer noch komfortabel, auch mit Blick aufs große Bild: In der WM-Wertung baute Max Verstappen seinen Vorsprung auf 69 Zähler aus.