Süddeutsche Zeitung

Formel 1:Späte Wende zur Vernunft

Nach einer unwürdigen Posse sagt die Formel 1 ihren Saisonstart in Australien ab - und die nächsten Rennen in Bahrain und Vietnam gleich mit. Wann erstmals gefahren wird, ist völlig unklar.

Von Philipp Schneider, Melbourne

Chase Carey ist ein Mann, der Eindruck machen kann. Geboren in Irland, ausgebildet in den USA, hat er sich einen derart kräftigen amerikanischen Akzent zugelegt, dass es manchmal wirkt, als wolle er mit diesem sicherstellen, dass ihn ja jeder für einen Amerikaner hält. Als Absolvent der Harvard Universität hat er gelernt mitreißende Reden zu halten, dabei hilft ihm die Ausdruckskraft seiner himmelblauen Augen und natürlich sein kunstvoll gezwirbelter Moustache, den er notfalls als Ablenkungsmanöver verwenden kann, wenn ihm die Argumente ausgehen. Als Carey, 66, vor drei Jahren der neue starke Mann der Formel 1 und Nachfolger des ehemaligen Gebrauchtwagenhändlers Bernie Ecclestone wurde, da hat er gesagt, er habe nur zehn Sekunden überlegen müssen, dann habe er den Job angenommen.

Freitagmittag stand Carey vor der Presse im Albert Park, er musste etwas verteidigen, dass er nicht allein verbockt hatte, und ganz plötzlich fiel ihm das Reden sehr schwer. Er habe "effiziente und effektive Entscheidungen in Echtzeit" treffen müssen, erzählte er. Die ganze Situation sei "fluide", das Ergebnis "enttäuschend" gewesen. Alle hätten "ihr Bestes gegeben", aber er habe halt auch zunächst "Input from everybody" einholen müssen.

Carey redete und redete, und gegen Ende seiner Rede, als es um die ungewisse Zukunft der Formel 1 ging, fuhr ihm plötzlich ein sehr kräftiger Wind ins Haar, kurz darauf würde es tröpfeln. Carey lief zügig von der Bühne, rettete seinen Moustache ins Trockene. Niemand hätte ihm übel genommen, hätte er zehn Sekunden darüber nachgedacht, seinen Job wieder hinzuschmeißen. Draußen im Wind sagte er dann noch: "Wir hatten noch vor ein paar Tagen das Gefühl, dass es richtig ist, nach Australien zu kommen. Rückblickend kann man die Dinge sicher anders sehen."

Carey wusste in diesem Moment schon, was die Formel 1 erst am Abend verkünden würde: Dass nämlich nicht nur der Saisonauftakt der Formel 1 in Melbourne abgesagt werden musste, sondern auch die nächsten zwei Rennen: in Bahrain und Vietnam. Die globale Corona-Großlage, in der es vor allem darum geht, eine rasante Verbreitung des neuartigen Virus in der Bevölkerung zu verhindern, ist ein Feind aller nicht lebensnotwendigen Massenversammlungen. Und damit zum Sport.

Vettel und Räikkönen sitzen schon im Flieger, als das Rennen noch gar nicht abgesagt ist

Dieser Freitagmorgen vor dem Rennsonntag in Melbourne begann auf den ersten Blick so wie die Freitage vor den Rennsonntagen in den Jahren zuvor. In freudiger Erwartung, an diesem Vormittag die ersten Frühjahrsausfahrten der Formel-1-Autos aus der Nähe zu erleben, strömten Tausende Fans in Melbourne zum Albert Park und stellten sich dort brav an vor den Toren. Was sie nicht ahnten: Die Tore würden heute nicht geöffnet werden. Obwohl von einer Absage des ersten Rennens des Jahres bislang keine Rede war. Was sie ebenfalls nicht wussten: Obwohl das Rennen noch nicht abgesagt war, saß Sebastian Vettel in diesem Moment bereits im Flugzeug und war auf dem Weg in die Heimat. Gemeinsam mit Kimi Räikkönen, seinem besten Freund im Fahrerlager. Vettel fährt für Ferrari, Räikkönen für Alfa Romeo. Das ist kein unwesentliches Detail. Die Mitarbeiter von zwei Rennställe flohen im Morgengrauen von einer Veranstaltung, die noch nicht abgesagt war.

Ihren Trip zum Flughafen hatten die Fahrer mitnichten spontan beschlossen. Wie aus Ferrari-Kreisen zu erfahren war, hatten der Rennstall und Vettel schon am Vorabend entschieden, am nächsten Morgen abzureisen. Sie hatten entschieden, dass kein Ferrari-Mitarbeiter mitmachen würde bei einer Veranstaltung, nachdem ein Mitarbeiter von McLaren positiv auf das neuartige Coronavirus getestet worden war. Die Scuderia hatte diese Entscheidung unmissverständlich kundgetan auf einer Krisensitzung aller Teamchefs, des Automobil Weltverbands Fia und den Vertretern der Formel 1.

Erst acht Stunden später, als die Zuschauer sich in diesen ansteckenden Zeiten dicht an dicht vor den Toren drückten, wurde das Rennen offiziell abgesagt - in einer Erklärung von Fia, der Formel 1 und dem lokalen Rennstreckenbetreiber. Da sie diese gemeinsam zeichneten, ist noch längst nicht klar, wer für die Kosten aufkommen wird. Für eine pompöse Open-Air-Bühne etwa, die ja irgendjemand bezahlen muss, auch wenn die Musik dort nie gespielt hat. Mehr als 117 Millionen Australische Dollar kostet die Veranstaltung jedes Jahr, rund 60 Millionen Dollar zahlt der australische Steuerzahler.

Das Rennen wurde auf der nächtlichen Krisensitzung nicht sofort abgesagt, obwohl nun Alfa Romeo, Ferrari und auch Renault und das vom Virus betroffene Team von McLaren klargemacht hatten, dass sie am Freitag ihre Garagen räumen wollen. Vier andere Teams sagten zunächst, dass sie zumindest am Freitag fahren würden: Red Bull, Alpha Tauri, Mercedes und Racing Point. So nahm eine Posse ihren Lauf, die das Ansehen der gesamten Formel 1 beschädigt zurückließ. Günther Steiner, der Chef des Haas-Rennstalls, berichtete gar, er sei "aufgestanden und zur Strecke gefahren" und habe nicht "gewusst, wo die Reise hingeht". Steiner jedenfalls wollte seine Rennwagen geschwind auf die Piste schicken. Völlig konfus wurde die Situation, als noch kurz vor der offiziellen Absage der australische Rennveranstalter versicherte, das Rennen werde wie geplant stattfinden.

Input from everybody. Das hat man dann davon.

Die selbsternannte Königsklasse des Motorsports hat es also hinbekommen, eine ganze Nacht darüber zu grübeln und beraten, ob sie eine Massenveranstaltung absagen soll, obwohl in deren Herzen, im Fahrerlager der Teams, ein Mitarbeiter positiv auf Covid-19 getestet worden war. Einen Rennstart überhaupt in Betracht zu ziehen, war jenseits aller medizinischen Erwägungen auch eine Unsportlichkeit gegenüber McLaren. Der Mitarbeiter des britischen Teams hatte sich nach einem positiven Test in Quarantäne begeben müssen. Der Rennstall zog daraus die richtige Konsequenz und sein Team vom Rennstart zurück - und schickte sogar vorsorglich 14 weitere Mitarbeiter in Quarantäne, die mit dem Mitarbeiter in engem Kontakt gestanden hatten. Die betreffenden Teammitglieder müssen vorsichtshalber für 14 Tage im Hotel in Melbourne bleiben.

Der Konter von Chase Carey auf Lewis Hamilton geht ins Leere

Die entscheidende 180-Grad-Kurve zur richtigen Entscheidung, das Rennen abzusagen, erwischten die Offiziellen erst, als Mercedes seine Position überdacht hatte und auf Wunsch der Fia einen flammenden Brief schrieb: "Angesichts der Ereignisse höherer Gewalt, die wir im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie erleben, ist der Fokus des Teams nun, sicherzustellen, dass alle Mitarbeiter so sicher und schnell wie möglich nach Hause zurückkehren." Fakt ist: Abgesagt wurde das Rennen erst, als sich die Mehrheit der Teams gegen einen Start ausgesprochen und Mercedes dieses Schreiben aufgesetzt hatte. Chase Carey sagte, am Ende habe "der Rat des nationalen Gesundheitsministers" den Ausschlag gegeben. Der erteilte seinen Rat blöderweise erst um 9 Uhr in der Früh. "Es war eine Anhäufung von Fakten", sagte Carey. Die Erkrankung des McLaren-Mitarbeiters sei ebenso in die Entscheidung eingeflossen wie die Corona-Lage in "Melbourne, Australien und der ganzen Welt".

Auf die Frage, wieso eine Veranstaltung fortgeführt wird, während auf der ganzen Welt Sportveranstaltungen abgesagt werden, hatte Lewis Hamilton am Vortag gelästert: "Cash is king", Geld regiere die Welt. Chase Carey versuchte den Satz am Freitag zu kontern, indem er sagte: "Wenn Cash King wäre, dann hätten wir diese Entscheidung nicht getroffen." Der Konter ging allerdings ins Leere. Haben doch gerade die zähen Verhandlungen in der langen Nacht auf Freitag bewiesen, dass Hamilton richtigliegt und zumindest Teile der Formel 1 - einzelne Teams sowie der lokale Veranstalter und die lokale Regierung nämlich - auf eine Austragung des Rennens gehofft haben, als die Zuschauer schon für eine unfreiwillige Massenveranstaltung vor verschlossenen Toren zusammenkamen. Hamilton begrüßte die Absage. "Wir alle wollen in unsere Autos steigen und Rennen fahren", teilte er mit. "Wir müssen aber realistisch sein und die Gesundheit sowie die Sicherheit auf die Pole-Position stellen."

Und da die Sicherheit nun endlich in der ersten Reihe steht, ist offen, wann die Formel 1 in die Saison starten wird. Selbst der Grand Prix von Aserbaidschan am 7. Juni in Baku wird als möglicher Start gehandelt. Das Fachblatt Auto, Motor und Sport berichtet, alle Teams würden nach der Rückkehr in die Heimat freiwillig in Quarantäne gehen. Vorbildlich, für 14 Tage, wie von führenden Virologen empfohlen. "In den nächsten Tagen werden wir uns natürlich mit den vor uns liegenden Events befassen", versicherte Chase Carey. "Das sind herausfordernde Zeiten", sagte er noch. In dieser Woche waren sie zu herausfordernd für die überforderte Formel 1.

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SZ vom 14.03.2020
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