Ein Rennfahrer, dem das Herz bricht – was für ein Schlusspunkt der Formel 1 vor ihrer selbst auferlegten Sommerpause! Das internationale Echo nach dem Großen Preis von Belgien fiel entsprechend aus: „Alles anders!“ titelte tuttosport. „Die Ereignisse überschlagen sich“, jubelte Marca.
Das bezog sich nicht auf jene Aktion auf der Waage in der Boxengasse, wegen der George Russell seinen Sieg in Spa und Mercedes den Doppelerfolg verlor, weil der Silberpfeil anderthalb Kilo unter dem Mindestgewicht lag. Gemeint waren die vorausgegangenen 308,176 Rennkilometer, eine Berg- und Talfahrt mit all ihren Dramen auf und neben der Strecke, die den ersten Saisonabschnitt in einem Schnelldurchlauf wunderbar zusammengefasst hatten: Plötzlich scheint in der Formel 1 – ungeachtet eines enteilten WM-Gesamttabellenführers Max Verstappen – nichts mehr vorhersehbar zu sein, dafür alles möglich. Spa war ein perfekter Cliffhanger für das, was in den entscheidenden zehn Rennen des Jahres noch kommen könnte.
Vier Rennställe auf den ersten vier Startplätzen in den Ardennen, drei Fahrer in der Schlussrunde innerhalb von einer Sekunde beisammen – das zeigte: Das Rennen ist noch lange nicht gelaufen. Sieben verschiedene Sieger gab es in den ersten 14 Läufen der WM, Red-Bull-Beifahrer Sergio Perez gehört nicht dazu. Für den läuft nun ein anderer Grand Prix, nämlich der, ob er beim Neustart Ende August in Zandvoort überhaupt noch dabei ist. Mitte der Woche gibt es Tests mit Daniel Ricciardo und Liam Lawson, zwei potenziellen Nachfolgern, nachdem Perez in Spa aus seinem zweiten Startrang nur den achten Platz auf der Strecke machte. Selbst die schnellste Rennrunde und die Aufwertung nach Russells Disqualifikation auf Rang sieben wird dem Mexikaner wohl wenig nützen.
Ach, Russell! Mercedes konnte sich nach dem turbulenten Rennende nur drei Stunden über den ersten Doppelerfolg seit 2022 freuen, dann erbte Teamkollege Lewis Hamilton seinen 105. Formel-1-Sieg. Vermutlich wurde just die siegreiche Taktik zum Stolperstein. Russell war als einziger mit einer Ein-Stopp-Strategie unterwegs, entsprechend runtergefahren waren seine Pneus. Hinzu kam, dass auf der sieben Kilometer langen Piste keine Auslaufrunde gefahren wird, in der die Reifen bis zu 1,2 Kilogramm Gummiabrieb vom Boden aufsammeln. Mercedes-Teamchef Toto Wolff blieb daher nur, sich zu entschuldigen und sofort aufs Positive umzuschwenken: „Wir nehmen viele ermunternde Aspekte mit. Unser Auto war über zwei verschiedene Strategien hinweg die Messlatte. Noch vor ein paar Monaten wäre das undenkbar gewesen.“
Die bittere Panne täuscht nicht darüber hinweg, dass Mercedes mit drei Siegen in den jüngsten vier Läufe der Rennstall der Stunde ist und mit dieser Aufholjagd nun sogar das ursprüngliche Comeback-Team McLaren übertrumpft. Nicht auszudenken, wenn sowohl die Silberpfeile als auch die Papaya-Autos von Beginn an konkurrenzfähig gewesen wären. Seit acht Wochen hat sich eine komplett neue WM ergeben, forciert auch durch die Geschehnisse bei Branchenführer Red Bull, die Rennstallberater Helmut Marko als „netflixartig“ bezeichnet.
Verfolger Norris beklagt „dumme Fehler“ – und hat nun interne Konkurrenz durch Piastri
Aber guter Motorsport ist die bessere Show, mit dem authentischeren Drehbuch. Wenn Titelverteidiger Verstappen aktuell von „Schadensbegrenzung“ spricht, dann mündet diese realistische Selbsteinschätzung in einen viel spannenderen Kampf, als wenn es immer nur um die Plätze hinter ihm, der Nummer eins, geht. Selbst Ferrari mit seiner launischen roten Göttin meldet sich zurück im munteren Sieger-wechsel-dich-Spielchen. „Dass es in diesem Jahr noch mal so werden würde, haben wir selbst nicht erwartet“, gab der nachträgliche Sieger Hamilton zu und versprach: „Das wird noch eine tolle zweite Saisonhälfte.“
Man stelle sich nur vor, Lando Norris, mit immer noch 78 Zählern Rückstand Verstappens erster Verfolger, könnte seine Nerven besser bündeln. Im Schnitt muss der Brite fortan acht Zähler besser als der Weltmeister sein, dann könnte er das Steuer in der WM noch herumreißen. Sein Manko zeigte sich in Spa, als er den Start verhaute und später bei Verstappens Verfolgung zu übermutig agierte: „Es waren dumme Fehler. Dafür habe ich den Preis bezahlt.“ Mehr zu schaffen machen dürfte Norris die interne McLaren-Konkurrenz durch Oscar Piastri, nachdem der Australier binnen einer Woche einmal Erster und einmal Zweiter wurde. Kein leichter Job für Teamchef Andrea Stella, um in den drei Urlaubswochen zu entscheiden, auf welchen Piloten der Rennstall für den Rest des Jahres setzen will. In der lukrativen Konstrukteurswertung ist der britische Formel-1-Saurier schon nah an Red Bull herangekommen, es wäre der erste Titel seit 25 Jahren für McLaren. Der Rückstand von nur noch 42 Zählern entspricht einem Doppelerfolg.
Fast-Sieger Russell schwärmt von dieser großen Konkurrenz, bei der sich Chancen und Risiken aus der Tagesform ergeben: „Ich hatte das Gefühl, dass es zwischen uns allen überraschend sehr, sehr eng war. Das wird ein echt harter Kampf bis zum Saisonende, so motiviert, wie jetzt alle sind.“ Tatsächlich wirkt Red Bull zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren überholbar. Russell bedauert nur: „Schade, dass diese Saison für uns nicht erst jetzt begonnen hat.“
Mit der Arithmetik ist das ohnehin so eine Sache – niemand hätte vor dem Pausen-Grand-Prix geglaubt, dass Russells Reifen 34 Runden halten würde, er hatte die kalkulierte Lebenszeit glatt verdoppelt. Solche Launen tun der Königsklasse nach Jahren der Monochromie ziemlich gut. Seit Anfang Mai ist jeder Rennsieg hart umkämpft. Die Fachbibel autosport prognostiziert, dass der Rest der Saison bis Dezember ein „echter Kracher“ werde.
Verstappen, der trotz Startplatz elf nach einer Motorenstrafe am Ende noch als Vierter gewertet wurde, hält weiterhin als One-Man-Show dagegen. Spannend ist, wie lange er das durchhält. „Ich weiß, dass wir gerade nicht das schnellste Auto haben“, sagt der Red-Bull-Pilot, „ich hoffe, wir finden ein bisschen von der verlorenen Zeit, denn das würde mein Leben leichter machen. So lange geht es nur um Schadensbegrenzung.“ Die betreibt er auf hohem Niveau, aber Verstappen, 26, richtet sich darauf ein, seinen bisher komfortablen Vorsprung hart verteidigen zu müssen. „Ich werde mich neu programmieren“, kündigt Angreifer Norris an, „am liebsten würde ich einfach weiterfahren, so gut wie wir gerade drauf sind.“ Durchatmen!