Formel 1 in Sotschi:"Wo steht das denn im Reglement?"

Formel 1 in Sotschi: "Sag mir bitte gar nichts mehr, es bringt eh nichts": Lewis Hamilton in Sotschi.

"Sag mir bitte gar nichts mehr, es bringt eh nichts": Lewis Hamilton in Sotschi.

(Foto: AFP)

Ein erstaunlicher Regel-Irrtum von Mercedes kostet Lewis Hamilton den Sieg beim Formel-1-Rennen in Sotschi. Der WM-Führende ist sauer.

Von Philipp Schneider

Das Rennen war vorbei, und Lewis Hamilton rollte seinen Silberpfeil hinüber zu einer recht ungewohnten Parkposition. Hinter ein Schild mit der großen Ziffer "3". Dort stand er nun neben dem Auto seines Teamkollegen Valtteri Bottas, der sich zum neunten Mal einen Platz an der "1" verdient hatte, und Max Verstappens Red Bull, vor dem eine "2" prangte. Hamilton kletterte aus dem Wagen, lief hinüber zu Interviewer Johnny Herbert, der ihm nun ein paar unangenehme Fragen stellen würde. Hamilton griff mit der Hand ans Ohr, als wolle er seine Muschel zuklappen, um Herbert akustisch zu dämpfen.

Doch vorher zog er noch schnell den Reißverschluss an seinem Rennoverall bis zum Kinn. Vorschriftsmäßig! Das kam ja noch hinzu an Hamiltons gebrauchtem Tag: Kurz vor dem Start hatte der Automobilweltverband eine mögliche Fortsetzung von Hamiltons Anti-Rassismus-Kampagne verboten. Er erließ eine Richtlinie, wonach während der Podiumszeremonie und der Interviews die Piloten ihre Overalls "bis zum Nacken geschlossen" tragen müssen. Hamilton hatte nach dem Rennen in Mugello ein T-Shirt mit der Aufschrift "Verhaftet die Polizisten, die Breonna Taylor getötet haben" getragen, womit er an die schwarze US-Amerikanerin erinnerte, die von einem Polizisten erschossen worden war. Wer weiß, welche Botschaft Hamilton am Sonntag in Sotschi vorbereitet hatte.

Aber jetzt stand auch noch Johnny Herbert vor ihm. Und Herbert, dreimaliger Rennsieger, wollte von ihm wissen, warum er es heute nicht geschafft hatte, Michael Schumachers Bestmarke von 91 Rennsiegen zu erreichen, von der man ja lange Zeit dachte, ehe diese jemand egalisiere, habe die Menschheit den Mars kolonisiert. Herbert wusste natürlich die Antwort: Hamilton hatte in Sotschi mit seinen Reifen eine verbotene Generalprobe auf den Asphalt gebrannt: Eine halbe Stunde vor dem Rennen probte er den Start. Gleich zweimal nacheinander. Allerdings unmittelbar am Ende der Boxenausfahrt - nicht dort, wo Teststarts erlaubt sind. Dafür erhielt er eine Strafe von zwei mal fünf Sekunden. Fünf pro Start. Zehn Sekunden, die ihn den Sieg kosteten und seinen Jubeltag mindestens um zwei Wochen verschoben: Dann fährt die Formel 1 auf dem Nürburgring.

Er habe eben nicht den besten Tag erlebt, sagte Hamilton. Herbert blieb dran, setzte nach. "Ist doch jetzt egal. Ich nehme die Punkte mit", sagte Hamilton.

Hamilton erfährt von seiner Strafe per Funk

Hamiltons Verärgerung war enorm, verständlicherweise. Er trug ja nicht einmal alleine Schuld an den illegalen Darbietungen. Hatte er sich zuvor doch erkundigt bei seinem Team, ob die Teststarts erlaubt wären. Vorübergehend drohte ihm der baldige Verlust seiner Fahrlizenz: Er erhielt zunächst den neunten und zehnten Strafpunkt im Sünderregister. Bei zwölf Punkten hätte er für ein Rennen aussetzen müssen. Die Formel 1 ist knallhart wie die Führerscheinstelle in Flensburg. Allerdings nahmen die Kommissare Stunden nach dem Rennen die Strafpunkte zurück - und verurteilten stattdessen Mercedes zu einer Geldstrafe in Höhe von 25 000 Euro.

Als die Kommissare in Sotschi zu ihrem Urteil gelangten, lief das Rennen längst. Hamilton erfuhr von seiner Strafe im Funk. Ungläubig fragte er: "Wo steht das denn im Reglement?" Dann merkte er an: "Alles nur, um mich einzubremsen. Aber schon okay!" Nun, in Artikel 19.1 der "Event-Notes" heißt es: "Übungsstarts dürfen nur auf der rechten Fahrbahnseite nach der Ampel am Boxenausgang durchgeführt werden." Sein Teamchef Toto Wolff nahm Hamilton in Schutz. Es sei eben nicht genau "spezifiziert", wo exakt der Ort für die Starts sei.

Hamilton startete ja tatsächlich in einem Bereich nach der Ampel am Boxenausgang. Allerdings sehr weit entfernt von und nicht unmittelbar nach der Ampel. Den Regelhütern geht es aus Sicherheitsgründen offensichtlich um eine räumliche Entzerrung zwischen dem Übungsstart-Areal und der Strecke. Die war nun nicht mehr gewahrt. Später gab Hamilton zu, dass er sich den Platz weit hinten an der Ausfahrt sehr bewusst ausgesucht hatte. "Ich mache das generell bei jedem Rennen. Ich mache es seit Jahren und hatte nie Probleme."

Es sind unübliche Fehler, die Mercedes neuerdings unterlaufen. Das Reglement sitzt offenbar nicht fest in den Köpfen. Neulich, beim Rennen in Monza, hatte Hamilton einen Boxenstopp eingelegt, obwohl die Boxengasse noch geschlossen war. Das Team lernte damals, dass zwei blinkende Kreuze auf der linken Seite der Strecke in gewissen Momenten zu beachten sind. Und nun in Sotschi gab es auch noch Probleme in der Qualifikation: Hamilton schied fast aus bei der Zeitenjagd, schaffte es gerade so noch ins Finale. Allerdings nur, weil ihm sein Rennstall im Q2 sicherheitshalber die weichste, schnellste und vergänglichste Reifenmischung ans Auto geschraubt hatte. Das Reglement sieht vor, dass die Reifen aus dem Q2 auch bei Rennstart aufgezogen werden müssen. Weswegen Hamilton nun, Pole Position hin oder her, einen Nachteil hatte in Sotschi: Er musste mit den vergänglichsten Pneus gut haushalten, um nicht einen Stopp mehr zu riskieren als Verstappen, der von Platz zwei auf Medium-Reifen ins Rennen ging.

Gleich nach dem Start fliegen Teile auf die Strecke

Hamilton kam gut vom Fleck, auch Bottas, der sogleich Verstappen passierte. Der Niederländer blieb am Heck des Finnen, verpasste so im Rausch des Windschattens die zweite Kurve und nahm den Notausgang. Genau wie Carlos Sainz, der beim Ausritt die Bande touchierte und seinen McLaren demolierte. Teile flogen auf die Strecke, das Safety Car rückte aus.

Nach sieben Runden wurde das Rennen wieder gestartet. Anders als zuletzt in Mugello gab es diesmal keine Massencrashs nach dem Widerstart. Hinter den Silberpfeilen rollte Verstappen, dahinter folgten die Renaults von Esteban Ocon und Daniel Ricciardo. Sebastian Vettel? War 13. In der Qualifikation hatte ihn ein heftiger Crash auf Rang 14 geworfen. Danach packte er vorbildlich mit an und half den Streckenposten beim Aufräumen der Karbonteile.

Nach zwölf Runden kündigte Bottas an, er werde nun die Lücke zu Hamilton verkleinern. Die Zehn-Sekunden-Strafe, von der Hamilton soeben erst erfahren hatte, änderte die Strategie der Silberpfeile: Sie mussten nun auf einen Rennsieg von Bottas setzen. Nach 17 Runden kam Hamilton an die Box. Dort saß er seine Strafe ab und ließ sich frische Reifen montieren. Hinter Vettel rollte Hamilton auf die Strecke. Er war nun nicht mehr Erster, sondern Elfter. "Just ridiculous" sei seine Strafe, maulte Hamilton. Wenn er meinte, lächerlich im Sinne von unnötig: ja.

Hamilton motzt seinen Renn-Ingenieur an

Nach der Hälfte des Rennens tummelten sich an der Spitze Bottas, Verstappen und Leclerc auf ihren Medium-Reifen. Hamiltons Gemüt war immer noch wohltemperiert: "Ihr habt mich zu früh rausgeholt, ich weiß gar nicht, ob ich es bis ins Ziel schaffe!", klagte er nun. "Du bist 39 Sekunden hinter Verstappen", versuchte ihn sein Renn-Ingenieur aufzumuntern. "Sag mir bitte gar nichts mehr, es bringt eh nichts", motzte Hamilton.

Und so kam es, dass Bottas in einem sehr einsamen Rennen einem Sieg entgegenfuhr. Verstappen konnte ihm zwar nicht folgen. Aber das genügte für Platz zwei. Und Vettel? Quälte sich mal wieder in eines viermaligen Weltmeisters unwürdigen Zonen. Vier Runden vor Schluss wurde er überrundet, sieben Autos nach seinem Teamkollegen Leclerc querte er als 13. das Ziel. Sein einziger Trost bestand darin, dass viel weiter vorne Sergio Perez auf Platz vier stürmte. Der freundliche Mexikaner sitzt in Vettels künftigem Auto.

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