Formel 1 in Saudi-Arabien:Der Wahnsinn tanzt in Dschidda

Formula 1 2021: Saudi Arabia GP JEDDAH STREET CIRCUIT, SAUDI ARABIA - DECEMBER 05: Max Verstappen, Red Bull Racing RB16
(Foto: Zak Mauger/Imago)

In einem denkwürdigen Rennen mit zwei Unterbrechungen, drei Starts und reihenweise Crashs eskaliert das Duell zwischen Hamilton und Verstappen. Punktgleich fahren sie nun zum Finale nach Abu Dhabi.

Von Philipp Schneider

Es war halb zehn am Abend, Ortszeit in Dschidda, Saudi-Arabien, als diese ohnehin an Pointen schon reiche Saison der Formel 1 auf ihren ersten Höhepunkt zusteuerte. Die erste von so unfasslich vielen Pointen, dass sie für eine ganze Saison gereicht hätten. In einem Rennen, das Lewis Hamilton vor Max Verstappen gewann. Und in dem ihr Duell jene Eskalation erlebte, die schon seit vielen Wochen und Monaten zu befürchten war.

Eine Stunde war vergangen seit dem Rennstart vor der ersten bizarren Szene. In diesen 60 Minuten allerdings hatten die 20 Autos erst 16 von 50 Runden auf dem nagelneuen Dschidda Corniche Circuit hinter sich gebracht. Das lag an zwei Rennunterbrechungen in Kombination mit zwei Rennstarts, die dafür gesorgt hatten, dass der Verkehr auf der Strecke am Roten Meer, sagen wir, etwas schleppend in Gang geraten war.

Aber nun knarzten die Mikrofone bei Rennleitung und den Teams von Mercedes und Red Bull. Die Dialoge, die die Zuschauer live zu hören bekamen, sie erinnerten eher an einen mittelalterlichen Kuhhandel im bayerischen Hinterland als an eine ernsthafte Debatte in der multimillionen Dollar teuren Formel 1. "Wenn ihr freiwillig auf Platz zwei geht, gibt es keine Strafe", funkte Rennleiter Michael Masi in Richtung Red Bull. Hmm, och, okay, sagte Red Bulls Teammanager Jonathan Wheatley. Folgender Gegenvorschlag: "Wir sind dabei, wenn Ocon auf der Pole steht." Masi präzisierte: "Ihr müsst hinter Hamilton!" Und Wheatley antwortet: "Gebt uns Bedenkzeit."

Bedenkzeit? Als ob sich Strafen im laufenden Rennbetrieb mit der Rennleitung schon immer aushandeln ließen. Noch in Jahren wird man sich an diesen kuriosen Moment erinnern, an dem einer der spannendsten Titelkämpfe der Formel-1-Geschichte im vorletzten Grand Prix der Saison für kurze Zeit eher einer Talksendung mit dem Pfarrer Jürgen Fliege (die Älteren werden sich erinnern) ähnelte als einer Motorsportveranstaltung für harte Kerle.

Verstappen wird von der Rennleitung aufgefordert, Hamilton vorbei zu lassen - den die Nachricht beim Überholen wohl noch gar erreicht hat

Kurz darauf gab es den dritten Start. Den gewann Verstappen. Was aber dann folgte, wird letztlich dazu führen, dass der Kuhhandel sehr schnell in Vergessenheit gerät. Denn Verstappen, der keine Chance hatte, seine Führung vor dem deutlich schnelleren Hamilton ins Ziel zu retten, wehrte sich nun mit mehreren knallharten Manövern. Und nach einem rummste es heftig.

In einer der engsten und schnellsten Passagen fuhr Verstappen mitten auf der Strecke und verlangsamte, Hamilton rauschte ihm ins Heck. "Das ist ein Bremstest", schimpft Hamilton. Die Kamera fing Toto Wolff ein, den Teamchef von Mercedes, wie er sich in der Kommandozentrale vor Wut den Kopfhörer vom Haupt riss und auf den Tisch knallte. Hamiltons Frontflügel hing in Fetzen. Immer weiter ging die irre Fahrt - wie auch der bizarre Funkverkehr zwischen Teams und Rennleitung.

Formel 1 in Saudi-Arabien: Da saß der Kopfhörer noch auf seinem Haupt: Mercedes Teamchef Toto Wolff.

Da saß der Kopfhörer noch auf seinem Haupt: Mercedes Teamchef Toto Wolff.

(Foto: Andrej Isakovic/AFP)

Verstappen war von der Rennleitung aufgefordert worden, Hamilton vorbei zu lassen, weil er kurz zuvor bei einem Verteidigungsmanöver die Strecke verlassen hatte. Was man da noch nicht ahnte: Dass Hamilton offenbar die Nachricht noch gar nicht erreicht hatte, dass er würde vorbeifahren dürfen. "Ich habe nicht ganz verstanden, was da passiert ist", sagte Hamilton später. "Wir wussten es nicht. Max wusste es zuerst. Es kann sein, dass es ein totales Missverständnis war", sagte Wolff, als er sich wieder beruhigt hatte. Und Red Bulls Motorsportberater Helmut Marko gab zwar zu, Verstappens Manöver habe "von der Optik her etwas ungünstig für uns ausgesehen". Aber er wolle sich jetzt die notwendigen Daten beschaffen und anhand derer beweisen, dass Verstappen gar nicht gebremst habe. Markos Plan ging nicht auf.

Verstappen erhielt noch während des Rennens eine Strafe über fünf Sekunden für das Verlassen der Strecke, im dritten Versuch machte er Platz für Hamilton und ließ ihn danach auch vor sich. Und Stunden nach Rennende erhielt er noch eine weitere Strafe über zehn Sekunden, weil es die Kommissare als erwiesen erachteten, dass er auf eine Art gebremst habe, die zum Zusammenstoß geführt hatte. Auf Verstappens Renn-Resultat hatte diese Maßregelung allerdings keinerlei Einfluss mehr.

Weil Hamilton in seinem Auto, das sich unter ihm in seine Bestandteile auflöste, auch noch die schnellste Runde drehte, reisen die Kontrahenten nun tatsächlich punktgleich zum Saisonfinale in Abu Dhabi. Wäre der Verlauf der Saison 2021 das Skript eines Drehbuchautors, man hätte ihm sein Manuskript mit einem Lachen wieder per Post nach Hause geschickt.

Was, bitteschön, war das für eine irre Premiere auf der Strecke in Dschidda?

Diese eng gespannte Strecke in Saudi-Arabien ist ein teuflisches Band, das weiß man nun. Schon am Freitag erlebte Charles Leclerc einen heftigen Crash. Am Sonntag dann flogen an der Küste des Roten Meers mehr Gegenstände als am Rosenmontag in Düsseldorf in vorpandemischen Zeiten.

Nachdem Mick Schumacher heftig in die mächtige Bande rauscht, rückt erstmals das Safety Car aus

Hamilton startete vor seinem Teamkollegen Valtteri Bottas und Verstappen. Die Ampeln gingen aus, und den Piloten ganz vorne gelang allesamt ein Start wie im Lehrbuch. Also jenes Lehrbuch, in dem auf Seite eins in dicken Buchstaben vermerkt ist: bloß keinen Unfall riskieren! In unveränderter Reihenfolge sauste die Spitze des Feldes über den frischen Asphalt, der vom Aachener Architektenbüro Tilke in nur acht Monaten Arbeit in die Wüste betoniert worden war.

Auch Charles Leclerc, der seinen Ferrari auf Platz vier zwischen die Red Bulls geschoben hatte, behauptete seine Position gegen Sergio Perez. "Wenn am Start alles gut geht und wir einigermaßen unbeschadet durch die ersten Kurven kommen, sollte es gut für uns aussehen", hatte Mercedes-Teamchef Toto Wolff vor dem Start gesagt. Tatsächlich sah es schon sehr bald sehr gut aus für die Silberpfeile. Nach neun Runden machte Hamilton ernst und legte die erste pfeilschnelle Runde vor. Sein Abstand auf Teamkollege Bottas belief sich da schon auf zweieinhalb Sekunden. Und Bottas machte, was er tun sollte: Er hielt Verstappen auf. Allerdings nicht lang.

Weil kurz darauf zum ersten Mal das Safety Car ausrückte, nachdem Mick Schumacher heftig in die mächtige, aus mehreren Lagen bestehende Bande gerauscht war - an der gleichen Stelle, an der am Freitag Leclerc seinen Ferrari demoliert hatte. Sein verbogener und verbeulter Haas stand auf der schmalen Strecke, nachdem er Teile verloren hatte. Hamilton fuhr an die Box, Bottas und Perez auch. Nur Verstappen nicht, er fuhr weiter. Und übernahm so erstmals die Führung.

F1 Grand Prix of Saudi Arabia

Heftiger Einschlag: Für Mick Schumacher war der Große Preis von Saudi-Arabien früh beendet.

(Foto: Peter Fox/Getty)

War das schlau? Oder ein taktischer Fehler von Red Bull?

Nach vier Runden hinter dem Safety Car dämmerte es der Rennleitung, dass sie schweres Gerät würde aufbieten müssen, um die Bande zu reparieren. Spät, aber immerhin. Rote Flagge! Rennen gestoppt. Die Autos steuerten ihre Garagen an, die Piloten kletterten aus ihren Cockpits. "Bedeutet das, dass man Reifen wechseln darf?", fragte Hamilton sein Team. "Leider, Lewis, ja, das tut es", lautete die Antwort. Und so hatten sich Verstappen und Red Bull mit einem gleichermaßen mutigen wie glücklichen Manöver die Führung in der Boxengasse erkämpft. "Es war ein kleines Risiko zu stoppen, aber wir dachten nicht, dass es die rote Flagge gibt", unterrichtete Strategiechef James Vowles seinen aufgebrachten Fahrer. Das mochte sein. Es erklärte allerdings nicht, weswegen sie bei Mercedes nicht sicherheitshalber Bottas ebenfalls auf eine rote Flagge spekulieren ließen.

Rote Flagge! Die nächste Rennunterbrechung

Mit einem stehenden Start ging es wieder los. Diesmal kam Hamilton flinker vom Fleck als Verstappen, schob sich vor der ersten Kurve vorbei. Verstappen verließ die Strecke, erkämpfte sich außerhalb die Führung zurück. Das war gewiss nicht regelkonform. Weiter hinten krachte es: Leclerc touchierte den Red Bull von Perez, der fuhr in die Bande und stand quer. Und auch Nikita Masepin rammte seinen Haas in den Williams von George Russell. Wieder lagen überall Teile. Rote Flagge! Die nächste Rennunterbrechung. Und ehe der eingangs zitierte Kuhhandel im Funk losging, hatte Esteban Ocon all die Tumulte zu einer massiven Verbesserung seiner Position genutzt.

Er startete von ganz vorne, als zum dritten Mal die Ampeln ausgingen: Diesmal legte Verstappen los wie der Blitz, schob sich regelkonform auf der Innenseite vorbei an Hamilton. Ocon musste im Angesicht des Duells der WM-Kandidaten die Auslaufzone nehmen. Nach 20 von 50 Runden führte Verstappen vor Hamilton, Ocon und Daniel Ricciardo im McLaren. Als der Japaner Yuki Tsunoda den nächsten Zwischenfall verursachte und Sebastian Vettel drehte, rief die Rennleitung (vermutlich zur Abwechslung) ein Virtuelles Safety Car aus. 17 Umdrehungen blieben Hamilton danach noch für seine Jagd auf Verstappen. Und dann tanzte der Wahnsinn in Dschidda.

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