Ein Formel-1-Weltmeister, der bei dem, was er am liebsten macht, durchgehend schlechte Laune hat? Und der zum Schluss eines verkorksten Rennwochenendes, bei dem er zuvor ausgiebig seine Ingenieure per Funk beschimpft hat, auch noch den dritten Platz durch einen selbst verschuldeten Unfall verliert? Das verlangt nach Gründen, nach Maßregelung, nach Buße.
Da Letzteres in Kenntnis der Persönlichkeit von Max Verstappen wenig Aussicht auf Erfolg versprach, blieb seinem Team Red Bull nur eine Kombination aus eins und zwei. Und so kam nun vor dem Großen Preis von Belgien eine simple Lösung heraus: Der in der WM-Wertung weiterhin unangefochten mit 76 Punkten vor Lando Norris führende Verstappen sei zuletzt in Ungarn vor allem deshalb so dünnhäutig gewesen, hieß es, weil er vor dem Rennen die halbe Nacht lang Sim-Racing gespielt hatte. Und weil auch Champions ihren Schlaf brauchen, dürfe der Niederländer an Rennwochenenden künftig nicht mehr an der Konsole zocken. Das gute alte Fernsehverbot, in den Profi-Motorsport der Moderne übersetzt. Der verantwortliche Pädagoge soll Red-Bull-Berater Helmut Marko, 81, gewesen sein.
Angekommen im Fahrerlager von Spa-Francorchamps, wo an diesem Sonntag der letzte Grand Prix vor der Sommerpause ausgetragen wird, blieb von der vermeintlichen Retourkutsche nach Verstappens Generalabrechnung mit seinem Arbeitgeber („Einige bei uns müssen endlich aufwachen“) nicht mehr viel übrig.
Marko hat zwar tatsächlich mit seinem Champion vereinbart, solche Gaming-Spätschichten von nun an zu vermeiden, aber er wies auch gleich darauf hin, dass Verstappen einen eigenen Schlafrhythmus habe. Der Vielkritisierte selbst parierte grinsend, dass es gar keine Verbote brauche, im restlichen WM-Kalender gebe es ohnehin keine Überschneidungen mehr zwischen dem realen Formel-1-Kalender und dem Programm für seine Teilnahme an E-Sports-Rennen. Süffisant fügte Verstappen an: „In Imola war ich auch erst um drei morgens im Bett – und habe gewonnen.“
Verstappen bügelt mit Können, Instinkt und Kampfgeist die Schwächen seines Autos aus
Die Debatte um das virtuelle Nachtfahrverbot illustriert wunderbar das aktuelle Sittengemälde bei Red Bull, eines erfolgsverwöhnten Rennstalls, bei dem es schon seit einer Weile sportlich und menschlich kriselt. Dazu passt prima ein Zitat des Weltmeisters: „Hauptsächlich geht es darum, eine gute Balance zu finden.“ Gemeint war das zuletzt fehlgeschlagene Upgrade an seinem Rennwagen, tatsächlich aber dürfte es sich um ein ganzheitliches Problem handeln.
Ausgerechnet jetzt, wo der Rennstall auf der Suche nach Normalität ist, nachdem sich der Frust allein durch erhöhte Adrenalinspiegel und Aggressivität nicht bewältigen lässt, kassiert Verstappen für den vierten Motorwechsel auch noch eine Strafversetzung um zehn Startplätze nach hinten. Aber auf der längsten Rennstrecke der Saison lässt sich am besten auf- und überholen – von Verstappen in den vergangenen beiden Jahren bereits vorexerziert und jedes Mal vom Sieg gekrönt.
Vielleicht, so hoffen sie beim österreichisch-britischen Team, funktioniert der RB20 auf der klassischen Piste in Spa auch wieder besser. Momentan hat McLaren das beste Auto, und Mercedes und Ferrari wären wohl auch schon vorbei, wenn da nicht ein Verstappen in der Form seines Lebens fahren würde. Der Niederländer bügelt mit Können, Instinkt und Kampfgeist die Schwächen einer offenbar ausgereizten Fahrzeugkonstruktion aus.
Adrian Newey, der als in sich ruhendes Superhirn sowohl Autos wie Taktik meist perfekt erdacht hatte, ist nur noch Gast im RB-Stall. Jetzt müssen andere die Jobs übernehmen – und da knirscht es. Immerhin scheint sich der Zwist zwischen Teamchef Christian Horner und Konzernberater Marko beruhigt zu haben. Der Österreicher bleibt vertraglich gebunden, aber der Kontrakt ist nicht mehr ans Schicksal seines Zöglings Verstappen gekoppelt. Zu tun gibt es viel für die Führungsspitze, es gilt zunächst die Risse innerhalb der Mannschaft zu kitten und zugleich die nahe Zukunft als Motorenhersteller vorzubereiten. Die sportliche Malaise kommt da genau zur falschen Zeit. In der Fahrer-WM liegt Verstappen zwar noch relativ sicher vorne, aber in der lukrativen Konstrukteurs-Wertung ist McLaren bis auf 51 Zähler herangekommen.
Die Ursache für die Instabilität auf hohem Niveau ist sicher auch im Machtkampf bei Red Bull zu suchen
Der heiße Atem der Konkurrenz ist eigentlich genau das, was Verstappen motiviert. Jetzt sind aber auch seine Fähigkeiten als Leader gefordert. Champions wie Michael Schumacher oder Lewis Hamilton wären nie öffentlich auf ihre Mannschaft losgegangen. Doch Verstappen wendete den Rambo-Stil, mit dem er sich zu Beginn seiner Karriere Respekt in der Königsklasse verschafft hatte, zuletzt auch verbal an. Es klang wie ein Hilferuf: „Es ist dramatisch, dass einige Leute bei uns nicht auf der richtigen Wellenlänge liegen.“ Wo genau der Fehler im System liegt, müssen sie aber erst noch herausfinden.
Die Ursache für die Instabilität auf hohem Niveau ist sicher auch im Machtkampf bei Red Bull zu suchen, der nach dem Tod von Konzernlenker Dietrich Mateschitz seit Ende 2022 hinter den Kulissen tobt und in der realen Affäre um eine vermeintliche Affäre von Teamchef Horner gipfelte. Jeder scheint jedem zu misstrauen, wobei auch Rennfahrervater Jos Verstappen eine Rolle spielt. Nur Erfolg könnte die Egomanen wieder zusammenschweißen – oder die wachsende Angst vor Misserfolg.
Die Zeit der Sorglosigkeit ist jedenfalls vorbei, das zeigt auch die Diskussion um Sergio Perez, der trotz vorzeitig verlängertem Vertrag bislang als Verstappen-Helfer ein glatter Ausfall ist. Der Mexikaner fährt in Belgien um seinen Job, das ganze Team um seine Ehre. Die Nerven liegen blank, dabei verlangt der Weg zurück nach vorn vor allem eines: die Rückkehr zu größerer Souveränität.