Großer Preis von Kanada:Die Formel 1 hat Rücken

Großer Preis von Kanada: Lewis Hamilton brauchte nach dem Großen Preis von Aserbaidschan Hilfe, um aus dem Auto auszusteigen. Konkurrent Red Bull unterstellt ihm "Theatralik".

Lewis Hamilton brauchte nach dem Großen Preis von Aserbaidschan Hilfe, um aus dem Auto auszusteigen. Konkurrent Red Bull unterstellt ihm "Theatralik".

(Foto: Simon Galloway/Imago/Motorsport Images)

Die Autos hoppeln, die Wirbelsäule wird zur Knautschzone: Viele Piloten klagen wegen des "Bouncing"-Effekts über Schmerzen und fürchten Langzeitschäden. Nun greift der Automobilverband Fia schnell und heftig ins Reglement ein.

Von Elmar Brümmer, Montreal

Formel-1-Fahrer als Fall für den Orthopäden - das gab es tatsächlich schon einmal. Bereits vor vierzig Jahren, auf dem Höhepunkt der damaligen Ground-Effect-Ära, hatten die Techniker die Bodenfreiheit der Rennwagen drastisch verringert, die Autos waren zudem besonders steif abgestimmt, um noch schneller zu werden. Weltmeister Alan Jones rieb sich die Augen angesichts der Rundenzeitverbesserung, aber auch den Rücken vor Schmerzen. Teamchef Frank Williams empfahl dem klagenden Piloten, er solle sich doch auf seine Brieftasche setzen. "Die musst Du mir allerdings erst ordentlich füllen", antwortete der Australier. Weniger gepolsterte Fahrer klemmten sich Nerven ein, es kam zu grotesken Unfällen angesichts der schwer fahrbaren Autos, und zum Saisonende wurden die Regeln wieder geändert.

Ganz so weit ist die aktuelle Formel 1 nicht, aber die Sorgen sind groß. Vor Wochenfrist sprachen sich bei einem Treffen der Fahrergewerkschaft 19 der 20 Piloten aus gesundheitlichen Gründen für einen Vorstoß gegen ihre hüpfenden Dienstwagen beim Automobilweltverband Fia aus. Einzig Altmeister Fernando Alonso markierte den starken Mann, der Rest schloss sich dem Sprecher George Russell an: "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir einen schweren Zwischenfall sehen werden. Viele von uns können ihr Auto doch kaum auf einer geraden Linie halten." Eine hochtechnologische Sportart wie die Formel 1 müsse auch in der Lage sein, schnell Abhilfe zu schaffen - gerade wenn die Unsicherheit wachse und die Fehlerquote steige, allein schon durch die Schmerzen und die Ermüdung.

Tatsächlich hat die Fia am Vorabend des Großen Preises von Kanada nun unerwartet schnell und heftig eingegriffen. "Im Interesse der Sicherheit" verlangen die Funktionäre von den Rennställen, das bouncing genannte Phänomen "zu reduzieren oder zu beseitigen". Die Eil-Entscheidung sei nach Rücksprache mit Ärzten und zum Wohle der Fahrer gefallen: "In einer Sportart, in der routinemäßig mit Geschwindigkeiten von über 300 km/h gefahren wird, muss die gesamte Konzentration eines Fahrers auf diese Aufgabe gerichtet sein." Neben kurzfristig lindernden technischen Maßnahmen sollen die Teams die Probleme auf Sicht grundsätzlich abstellen.

"Müssen diese harten Abstimmungen wirklich sein?", fragt Carlos Sainz junior

Die Hüpfbewegungen entstehen, wenn sich die Autos immer näher an den Asphalt saugen. Berührt der Wagen dann aber irgendwann den Boden, reißt der Luftstrom kurz ab, das Fahrzeug hebt sich leicht an, um dann sofort wieder auf die Strecke gesaugt zu werden. Mal ist es nur ein sanftes Nicken, doch schon das bringt Fahrzeug wie Fahrer aus der Balance.

Großer Preis von Kanada: Auch Carlos Sainz junior steht der Situation in den Autos kritisch gegenüber.

Auch Carlos Sainz junior steht der Situation in den Autos kritisch gegenüber.

(Foto: Geoff Robins/AFP)

Einige Autos, vor allem der Mercedes, aber auch der Ferrari, schaukeln richtiggehend. Und das Ganze dann über gut anderthalb Stunden, gerade auf welligen Pisten, zu denen auch der Circuit de Gilles Villeneuve in Montreal gehört. Besonders starke Rüttelbewegungen entstehen, wenn die Autos bei hohem Tempo auf unebenen Pistenabschnitten aufsetzen, diese Attacken auf die Wirbelsäule wurden bottoming getauft.

Der Körper als Knautschzone mit unabsehbaren Folgen. Carlos Sainz junior bat in seinem Wunsch nach Änderung der momentanen Fahrzeugphilosophie auch daran zu denken, welchen gesundheitlichen Preis die Formel-1-Piloten auf Dauer zu bezahlen hätten: "Müssen diese harten Abstimmungen wirklich sein?" Er schob gleich nach, in dieser Debatte nicht auf die Teamchefs zu hören, auch sein direkter Vorgesetzter bei Ferrari, Mattia Binotto, sprach von immer noch "ziemlich bequem zu fahrenden Autos".

Aber wenn Rekordweltmeister Lewis Hamilton am Ende des Großen Preises von Aserbaidschan nur noch des Adrenalins wegen durchhält, sein Rücken auf den letzten Runden taub ist und erst nach vier Minuten Kältetherapie wieder reagiert, lässt sich schwerlich von Luxusproblemen sprechen. Der australische McLaren-Pilot Daniel Ricciardo warnte: "Was, wenn wir in zwei Jahren feststellen: Das war schlecht fürs Gehirn oder die Wirbelsäule?"

Mercedes leidet am stärksten unter dem bösartigen Hoppeln

Nicht nur die Fahrhöhe des Autos, auch die Fahrqualität und der Fahrstil sind ein Thema. Natürlich kennen die Ingenieure Möglichkeiten zur Abhilfe, doch diese bedeuten automatisch einen Zeitverlust. Bislang ging der Kompromiss immer zu Ungunsten der Fahrer aus. "Ich setze meine Gesundheit für die Leistung aufs Spiel", befand der Franzose Pierre Gasly im Wissen, dass damit seine Berufseinstellung ausgenutzt wird: "Ich brauche nach jedem Training eine Physiotherapie, weil meine Bandscheiben leiden. Es schlägt einfach durch die Wirbelsäule."

Ganz grundsätzlich geht es ihm auch um das sportliche Prinzip: "Wir Fahrer sollten nicht gezwungen sein, ständig das Für und Wider unseres Tuns abzuwägen." Mick Schumacher sprach davon, selbst auf den Geraden keinerlei Erholung mehr zu haben, so groß sei die Anspannung.

Dass Mercedes am stärksten unter dem bösartigen Hoppeln leidet, hat auch damit zu tun, dass das Auto am tiefsten von allen liegt. Die Anmerkungen der Konkurrenz, dass sich die Techniker leicht ihrer Sorgen entheben könnten, wenn sie einfach die Bodenfreiheit erhöhen würden, sind hämisch. Denn damit würde das Auto gewaltig an Tempo verlieren. Insbesondere Christian Horner vom Erzrivalen Red Bull, die die vergangenen fünf Rennen gewannen, wehrte sich im Vorfeld heftig: "Wenn wir das Reglement ändern, werden die bestraft, die einen guten Job gemacht haben. Und jene belohnt, die es nicht hinbekommen haben", sagte Horner. Er unterstellte den Konkurrenten kalkulierte Theatralik. Als ihr Teamchef würde er "ihnen auch sagen, dass sie so viel wie möglich jammern und ein so großes Problem daraus machen sollen, wie sie nur können".

Zur SZ-Startseite
Charles Leclerc

Formel 1 in Aserbaidschan
:Das Drama des Ferrariseins

Eine ganze Weile sah es so aus, als steuere Charles Leclerc auf den ersten WM-Titel eines Fahrers im roten Wagen seit 2007 zu. Doch nach drei Rennen mit Pleiten, Pech und Pannen ist sein größter Gegner sein eigenes Team.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: