Diesmal ging es so schnell wie selten, und höchstwahrscheinlich ist es jetzt schon so schräg wie nie. Schon am Montag, dem ersten Tag nach dem letzten Rennen, in den ersten Stunden der Sommerpause, ist die sogenannte "Silly Season" der Formel 1 in Gang geraten. Der englische Begriff ist die liebevolle und spöttische Umschreibung für die rennfreie Zeit. In dieser kurzen Phase beginnt in jedem Jahr das große Cockpitrücken - und sorgt oft für teils wilde Gerüchte. In diesem Jahr geht so irre zu, dass der Begriff "silly" wortwörtlich zu nehmen ist.
Große Namen sind im Spiel. Der viermalige Weltmeister Sebastian Vettel hört auf bei Aston Martin, macht Schluss mit der Raserei. Daraufhin schmeißt überraschend der zweimalige Weltmeister Fernando Alonso bei Alpine hin und erhält Vettels Cockpit. Damit geht Vettels grüner Wagen auch nicht an Mick Schumacher, den Sohn des Rekordweltmeisters Michael, für den Vettel bei Aston Martins Teamchef Lawrence Stroll eine Bewerbung hinterlegt hatte. Doch im heimlichen Zentrum all dieser Transferspielchen steht kein großer Name, sondern einer, den außerhalb der Rennsportwelt die wenigsten je gehört haben dürften. In der Formel 1 herrscht großes Gerangel um den Australier Oscar Piastri.
Der in Melbourne geborene 21-Jährige wird unter all den talentierten Nachwuchsfahrern der vergangenen Jahre selbst von nüchternen Szenekennern gefeiert. Als im vergangenen Jahr Mick Schumacher aufstieg in die Formel 1, da erhielt Piastri sein Cockpit im Team Prema. Darin wurde er nicht nur auf Anhieb Meister der Formel 2, wofür Schumacher ein Jahr Anlauf benötigt hatte. Piastri war auch in der Vorgängerserie Formel 3 bereits im ersten Versuch Champion geworden. So etwas war zuvor überhaupt erst zwei Piloten gelungen: Charles Leclerc, der derzeit eine Passionsgeschichte bei der Scuderia Ferrari durchlebt. Und dem talentierten Briten George Russell, der am Samstag in Ungarn im widererstarkten Mercedes seine erste Pole Position in der Formel 1 herausgefahren hat.
Oscar Piastri erhielt am Dienstag von seinem Rennstall Alpine, der ihn seit seiner Saison in der Formel 3 mit viel Geld fördert, ein Angebot zum Aufstieg in die Formel 1. Ein Angebot, zu dem die Mehrzahl seiner Sportkameraden sagen würden: "Oh, ja, dankeschön! Ich bin überwältigt! Ein Traum wird wahr. Niemals im Leben werde ich vergessen, wer mir einst die Chance gegeben hat, meiner Bestimmung zu folgen. Und ich bete hier und jetzt und auf Knien rutschend zum allmächtigen Kolbenfresser, dass ich das in mich gesetzte Vertrauen nie enttäuschen werde ..."
Oscar Piastri teilte am Dienstagabend jedoch auf Twitter mit: Nix da. Ich habe für den Quatsch nicht unterschrieben!
Piastri ist bei Alpine in diesem Jahr als Reservefahrer angestellt. Das Reglement schreibt vor, dass der Weltmeister der Formel 2 die Nachwuchsserie verlassen muss. Nach Piastris Titelgewinn im Vorjahr war jedoch kein Cockpit frei in der Formel 1. Nach Alonsos Absprung wird es das aber sein. Insofern war Alpine wohl zuversichtlich, Piastri würde sein Angebot annehmen. Am Nachmittag hatte das Team in einer Pressemitteilung frohlockt.
"Oscar", wie es hieß, sei ein "strahlendes und seltenes Talent", so wurde der Alpine-Teamchef Otmar Szafnauer zitiert. Man sei sehr froh, dass er in der kommenden Saison an der Seite von Esteban Ocon fahren werde.
Wer dann allerdings die folgenden Zeilen las und zudem noch bemerkte, dass der überschwänglich gefeierte Oscar gar nicht zu Wort kam, der durfte misstrauisch werden. Die Zeilen gingen so: "Wir sind stolz darauf, ihn auf den schwierigen Wegen der Nachwuchsserien gefördert und unterstützt zu haben. Durch unsere Zusammenarbeit in den letzten vier Jahren haben wir gesehen, wie er sich zu einem Fahrer entwickelt hat, der mehr als fähig ist, den Schritt in die Formel 1 zu wagen."
Piastris Absage trifft ein Team, das sich ohnehin in Schräglage befindet
Für ein Team, das sich des schnellen Oscars bereits sicher sein durfte, klang das nach erstaunlich viel Selbstlob und der Vorbereitung des Einforderns einer Gefälligkeit. Noch am Abend antwortete Piastri in nüchternem Tonfall auf Twitter: "Alpine F1 hat ohne meine Zustimmung am späten Nachmittag eine Pressemitteilung veröffentlicht, wonach ich nächstes Jahr für sie fahre. Das ist falsch, ich habe keinen Vertrag mit Alpine für 2023 unterschrieben." Und dann ließ er den Hammer fallen: "Ich werde nächstes Jahr nicht für Alpine fahren."
Nun trifft Piastris Absage ein Team, das sich ohnehin in Schräglage befindet. Als Teamchef Szafnauer am Sonntag sein Motorhome am Hungaroring zusammenpacken ließ, da tat er dies in dem Glauben, er stehe kurz vor einer Vertragsverlängerung mit Alonso. Weil auch dessen Teamkollege Esteban Ocon noch einen Vertrag bis Ende 2024 besitzt, wollte Szafnauer offenbar versuchen, Piastri vorübergehend bei Williams zu platzieren. Zur Erinnerung: Williams ist zwar lahm. Aber immerhin das Team, das für den nachweislich talentierten George Russell nicht zu schlecht war als Fahrschule vor seinem Umstieg in den Mercedes.
Alonsos überraschende Flucht von Alpine zu Aston Martin am Montag traf Szafnauer dann so überraschend wie ein Plattfuß in der Runde nach einem Reifenwechsel. Aston Martin hatte den stolzen Spanier dem Vernehmen nach mit der Aussicht auf einen Mehrjahresvertrag gelockt, den sie bei Alpine einem jetzt schon 41-Jährigen nicht ohne Murren überlassen wollten. Würde Alpine nun auch noch seinen schnellen Oscar verlieren, wäre das nicht nur sportlich tragisch, sondern auch ein bisschen peinlich.
Weil die Aussicht auf den Unterklassewagen Williams beim selbstbewussten Piastri keine Gänsehaut hervorgerufen hat, soll er stattdessen lieber vorgefühlt haben, ob er Chancen haben könnte, sofort bei McLaren unterzuschlüpfen - einem Anbieter für obere Mittelklassewagen in der Formel 1. Bei dem britischen Rennstall aus Woking lässt sich Piastris Landsmann Daniel Ricciardo regelmäßig vorführen vom 22-jährigen Teamkollegen Lando Norris.
Piastri hat womöglich mehrere Optionen - Mick Schumacher aktuell nur eine
Ricciardo hat bei McLaren zwar noch einen Vertrag bis Ende 2023. Aber was heißt das schon? Schließlich besitzt Piastri nach Auskunft von Szafnauer gegenüber der BBC auch eine schriftliche Vereinbarung mit Alpine. Dieser Vertrag gelte für die Saison 2023, und, falls eine Option in Anspruch genommen werde, auch für 2024. Was da im Kleingedruckten steht, ob es da Schlupflöcher gibt, verriet Szafnauer selbstverständlich nicht. Er gab allerdings zu, dass er derzeit Probleme habe, Piastris Manager Mark Webber zu erreichen, den ehemaligen Teamkollegen von Sebastian Vettel: "Oscar und seine Leute prüfen gerade ihre Optionen, was immer das heißen mag", sagte Szafnauer der BBC.
Das mag vor allem heißen: Glücklich ist, wer als junger Fahrer überhaupt Optionen hat, die eine Zukunft in der Formel 1 versprechen. Mick Schumacher, der im Gegensatz zu Piastri immerhin schon Rennen in der Formel 1 bestritten hat, hat Stand jetzt nur die Chance auf eine Vertragsverlängerung bei seinem Team Haas. Andererseits: Die Silly Season hat ja gerade erst begonnen.