Großer Preis der Niederlande:Die Formel 1 knattert wieder durchs Seebad

Zandvoort - 03-09-2021, CM.com Circuit Zandvoort, Formula 1 Dutch Grand Prix at the CM.com Circuit Zandvoort , Friday ,

Oranges Meer: Die Niederländer wollen Max Verstappen sehen.

(Foto: Pro Shots/Imago)

36 Jahre nach dem bislang letzten Grand-Prix der Niederlande ist die Formel 1 zurück in Zandvoort. Die Fans sind euphorisch, die Strecke in den Dünen wird die Fahrer fordern - und löst bei Umweltschützern Proteste aus.

Von Philipp Schneider, Zandvoort

Erstes Heimrennen? Ach was, sagt Max Verstappen. Heimrennen habe er doch wahrlich schon zur Genüge erlebt. Im österreichischen Spielberg, im belgischen Spa, dort gibt es ja schon seit Jahren Tribünen, deren einzige Daseinsberechtigung zu sein scheint, dass sie mit Anhängern von Max Verstappen bevölkert werden. Die Niederländer haben die Rennen gekapert, die Steiermark und die Ardennen in Orange getaucht, seit Verstappen vor sechs Jahren im Alter von 17 als jüngster Fahrer der Geschichte ein Formel-1-Auto bestieg. Erstes Heimrennen? "Das hier ist nur mein erster Grand-Prix der Niederlande", sagt Verstappen am Donnerstag.

Wie sehr er die Situation unterschätzte.

Tags darauf sind die Meester Troelstrastraat und die Brederodestraat unweit der Rennstrecke von Zandvoort beflaggt, als würde König Willem-Alexander runden Geburtstag feiern. Die Außenfassaden der kleinen Ziegelhäuschen sind mit permanenten Fahnenträgern ausgestattet; an diesem Wochenende haben die Niederländer dort karierte Zielflaggen eingesteckt. Nähert man sich der Hauptpforte zur Strecke, schieben sich in einer endlosen orangenen Welle die Anhänger von Verstappen in Richtung der Tribünen. Sie laufen vorbei an Plakaten mit der Aufschrift "Dive into the sea of orange", von denen man am Vortag noch dachte, der Spruch sei übertrieben. Es ist ein Marsch der Geimpften, Genesenen und Getesteten, das schon. Anderswo in den Niederlanden allerdings protestieren die Schaffenden von kleineren Kulturbetrieben, weil sie größeren Restriktionen unterliegen und dort nur eine sehr begrenzte Zahl von Zuschauern erlaubt ist. Nur hier in Zandvoort sperrt die Nation auf wie enthemmt für Max Verstappen. Von einem Pickup-Truck schmeißt eine Frau in Orange ungefragt mit orangenen Ponchos um sich. Man will ja gar nicht, aber die leibhaftige Orange schmeißt auf alle und zielt zu gut - und jetzt hat man wie zig Tausende ein wallendes Stück Stoff mit einem Oranje Leeuwen auf dem Rücken.

Zuletzt gastierte die Formel 1 hier im Jahr 1985

Niemand kann den Niederländern ihre Vorfreude verdenken, es ist 36 Jahre her, dass sie die Formel 1 zum letzten Mal empfangen durften an ihrer Westküste. Hier, am Strand zwischen Bloemendaal aan Zee und Noordwijk aan Zee, lässt sich ein Ende der Dünenlandschaft nicht erspähen, egal ob einer nach rechts oder links blickt. Im Süden grenzen die Amsterdamse Waterleidingduinen an den Ort, dort wird Trinkwasser für die Stadt Amsterdam gewonnen. Die Dünen sind teilweise Naturschutzgebiet.

Als beschlossen wurde, dass die Formel 1 zurückkehren würde nach mehr als drei Jahrzehnten, da war auch klar, dass die alte Traditionsstrecke, die schon drei Jahre nach der Vertreibung der Nationalsozialisten mitsamt ihres klobigen Atlantikwalls in die Dünen betoniert wurde, umgebaut werden müsste. Und weil hierzu auch neue Zufahrtswege notwendig waren, schäumten Umweltschützer wie die Brandung, die nur wenige Meter entfernt an den Strand schwappt.

Die Veranstalter versprachen, jede gefährdete Echse und Kröte für einen perfekten Winterschlaf umzusiedeln

Gegner des Plans verfolgten eine zweigleisige Strategie, um den Bau der neuen Strecke zu verhindern. Zum einen würde diese den Lebensraum von Kreuzkröte und Zauneidechse bedrohen, argumentierten sie. Konkret befürchteten sie, die Tiere würden um ihre Winterruhe gebracht. Ein Gericht gab sich mit der mutmaßlich nicht realitätsnahen Idee der Veranstalter zufrieden, die Tiere würden eingesammelt, um sie anderswo überwintern zu lassen.

Auch das Argument, die vielen Stickoxide würden die frische Luft in dem Seebad belasten, ließ die Richter nicht von ihrer Überzeugung abbringen, das gesellschaftliche Interesse an einem internationalen Sportereignis wiege mehr als ein Eingriff in den Lebensraum der Tiere und die Reinheit der Luft. Das sah die Bewegung Extinction Rebellion anders. Sie teilte mit, der Grand Prix sei "ein Beispiel für unnötige Emissionen, Naturzerstörung und Vetternwirtschaft, die unsere Zukunft gefährden". Die niederländische Regierung mache eine Ausnahme "für diese fossile Party". Am Sonntag soll es einen Fahrradprotest geben, Teilnehmer sollen sich als "einheimische Dünentiere" verkleiden. Man wird sehen.

Großer Preis der Niederlande: Sind die alle seinetwegen gekommen? Selbst Max Verstappen dürfte erstaunt gewesen sein, wie viele Fans beim Heimspiel des Niederländers zum freien Training in Zandvoort pilgerten.

Sind die alle seinetwegen gekommen? Selbst Max Verstappen dürfte erstaunt gewesen sein, wie viele Fans beim Heimspiel des Niederländers zum freien Training in Zandvoort pilgerten.

(Foto: Francisco Seco/AP)

Die Mehrheit der vom Tourismus lebenden Zandvoorter wollte offenbar die Formel 1 zurückhaben, die zuletzt im Seebad knatterte, als Niki Lauda im Jahr 1985 genau hier sein letztes Rennen gewann. Danach verschwand die Strecke aus dem Rennkalender, vor allem, weil sich die Anwohner über die Lärmbelästigung beschwerten.

Wenn es galt, sich an veränderte Lebensumstände anzupassen, waren die Zandvoorter schon immer einfallsreich. Als der Fischfang vor Jahrhunderten nicht mehr profitabel war, pflanzten sie Kartoffeln auf den Dünen an. Und als nun der Aufstieg ihres Jahrhunderttalents Verstappen zum Weltmeisterkandidaten nicht länger zu übersehen war, da freundeten sie sich mit dem Gebrauch von Ohrstöpseln an und setzten ihm eine überaus ungewöhnliche Strecke in den Sand, deren Tücken und Sensationen erst am Samstag bei der Qualifikation vollumfänglich enthüllt werden.

"Wenn du dich nur von der Sicherheit treiben lässt, baust du keine echte Rennstrecke", sagt Streckenschöpfer Jarno Zaffelli.

In dem auf die erste Biege mit dem schönen Namen Tarzanbocht folgenden Streckenabschnitt sind die Hugenholtzbocht und die Schlusskurve Arie Luyendijkbocht als Steilkurven konzipiert mit 19 beziehungsweise 18 Grad Neigung - so etwas gibt es auf keiner anderen Strecke der Formel 1. Die bislang berühmteste Steilkurve der Welt in Indianapolis hat eine Gefälle von 9 Grad. 19 Grad entsprechen einer Steigung von 35 Prozent. Die Piloten werden von den Fliehkräften förmlich gegen eine Wand gepresst. So können sie länger auf dem Gaspedal bleiben, und, dies ist die Idee von Streckendesigner Jarno Zaffelli, sich auf der folgenden Zielgerade eher überholen. "Wir wünschen uns doch Strecken, die als so gefährlich wie möglich wahrgenommen werden", hat Zaffelli kürzlich gesagt. "Wenn du dich nur von der Sicherheit treiben lässt, baust du keine echte Rennstrecke. Dann baust du einen Parkplatz und Auslaufzonen."

Die Fahrer werden in Zandvoort mit vertikalen Kräften belastet, sie werden also in den Sitz gedrückt, nicht nur von links nach rechts geworfen. "Da muss man ganz schön Eier haben", glaubt Williams-Fahrer George Russell, dessen Versetzung in den Mercedes von Valtteri Bottas zur kommenden Saison nur noch verkündet werden muss. Ferrari-Fahrer Carlos Sainz jr. geht davon aus, dass die Piloten bis zu fünf Mal pro Runde der fünffachen Kraft des eigenen Körpergewichts ausgesetzt werden. "Wenn man einmal in der Runde 5G aushalten muss, ist es okay. Vier oder fünf Mal, das könnte für den Nacken, für den ganzen Körper, schon sehr ermüdend werden."

Für Lewis Hamilton könnte die Sause auch ermüdend für die Ohren werden. Nachdem Verstappen in Silverstone von ihm und in Budapest von seinem Teamkollege Bottas aus dem Rennen katapultiert worden war, ist zuletzt das Rennen in Spa dem Regen zum Opfer gefallen. Nun also kommt es ausgerechnet bei Verstappens Heimspiel in den Dünen zur Revanche für die Rempeleien - vor dem Hintergrund, dass die Führung in der Weltmeisterschaft hin und her pendelt, aktuell führt der Brite mit drei Pünktchen. "Es ist nicht an mir, den Leuten zu sagen, dass sie nicht buhen sollen", hat Verstappen gesagt und damit den 70 000 Zuschauern eine Art Freibrief zum Protest erteilt. Als Hamilton seinen Mercedes im Training am Streckenrand abstellen musste, schwappte sogleich ein irrer Jubelsturm über die Tribünen, der womöglich die eine andere Zauneidechse geweckt haben könnte. "Ich würde nicht zu einem Event gehen, um zu buhen", hat Hamilton lässig gekontert. "Aber ich verstehe das."

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