Oscar Piastri arbeitete sich immer näher an Carlos Sainz heran, wie ein überlegenes Raubtier an seine Beute. Er lenkte das schnellere Auto mit den frischeren Reifen, klarer Vorteil bei der Geschwindigkeitsjagd. Und dann rauschte der McLaren am Ferrari vorbei. Ein Raunen ging durch die mit Tifosi gefüllten Tribünen. Bis eben hatten noch beide Ferrari auf Podiumskurs gelegen, und kurz nach dem Manöver von Piastri wurde Sainz auch noch von Lando Norris überholt. Nur noch fünf Runden war da zu fahren beim Großen Preis von Italien. Doppelerfolg? Oder doppelte Pleite? Ganz vorne lag ja noch der Teamkollege von Sainz, Charles Leclerc, dank einer Ein-Stopp-Strategie, sein Guthaben von elf Sekunden schmolz, die Reifen waren abgenutzt. Aber er kämpfte.
Und es reichte.
Unter frenetischem Jubel kam Leclerc mit 2,6 Sekunden Vorsprung als Schnellster beim Heimspiel ins Ziel und schenkte der Scuderia den ersten Erfolg in Monza seit 2019, auch damals war der 26 Jahre alte Monegasse der Sieger. In der ersten Funkbotschaft überschlug sich seine Stimme vor Euphorie. In der Gesamtwertung bringt das den Drittplatzierten auf 24 Punkte an Norris heran. Norris wiederum verkürzte als Renndritter den Rückstand in der WM auf Titelverteidiger Max Verstappen, der den letzten Europa-Grand-Prix der Saison als Sechster beendete, von 70 auf 62 Zähler. Für Nico Hülkenberg, einziger Deutscher, war nur Platz 17 drin.
In der Konstrukteurs-WM hat Red Bull auch nur noch neun Punkte mehr als McLaren, doch für den britischen Rennstall wäre noch mehr drin gewesen. „Es schmerzt. Ich will nicht lügen“, sagte Piastri. „Ich habe viel richtig gemacht, aber Ferrari hat es mit der Strategie besser gemacht.“ Norris hatte sich mit der Pole Position in der Qualifikation die beste Ausgangslage geholt, vor seinem Teamkollegen. Vor einer Woche in Zandvoort, einer vergleichsweise langsamen Strecke, hatte sich Norris bereits den vordersten Startplatz geholt. Das Selbstbewusstsein des WM-Führenden Red Bull hingegen hatte den nächsten Knacks abbekommen. Fast sieben Zehntel lag Verstappen am Samstag hinter Norris zurück – und wusste, wie schwer ein Erfolg werden würde.
Die Reihenfolge geriet dann schon kurz nach dem Start durcheinander. Bei 34 Grad Luft- und fast 50 Grad Asphalttemperatur kam Norris zwar gut weg, doch in der vierten Kurve lieferten sich die beiden McLaren ein Duell, in dem Norris erst die Führung und dann auch noch Platz zwei an Leclerc verlor. Der Ferrari-Pilot hatte von einem Patzer von George Russell profitiert, der sich in der ersten Kurve verbremst hatte und nach einem Umweg als Siebter auf die Strecke zurückgekommen war. Dadurch machte Verstappen eine Position gut, ebenso Sainz, der nun vor dem Mercedes von Lewis Hamilton Vierter war.
Norris bekommt die Erlaubnis fürs interne Duell: „Du darfst gegen Oscar racen, nach den Papaya-Regeln“
Weil es in der ersten Runde diverse Berührungen gab, folgten früh die ersten Boxenstopps. Hülkenberg war in der fünften Runde der Erste, Russell bog als Erster der Topfahrer in der zwölften Runde ab und ließ seinen Frontflügel wechseln. Die Kettenreaktion folgte aber erst, als Norris sich in der 15. Runde neue Reifen montieren ließ, darauf reagierten die anderen: Erst Leclerc (16. Runde), dann Hamilton (16.), dann Piastri (17.). Leclerc verlor durch den Stopp seine Position an Norris und fragte etwas säuerlich: „Wieso machen wir das, wenn wir überholt werden?“ Sainz indes hielt nach seinem Boxenstopp in der 19. Runde seine Position.
Das Überholmanöver in der ersten Runde wollte Norris natürlich kontern, er war jetzt wieder erster Verfolger von Piastri. In der 23. Runde erhielt er dafür die Genehmigung vom Kommandostand: „Du darfst gegen Oscar racen, nach den Papaya-Regeln.“ Offiziell gibt es keine Stallorder. Irgendeine Art von interner Absprache wurde aber offenbar doch getroffen für solche Duelle, die – wenn sie schiefgehen – das Team nicht nur Punkte, sondern auch viel Geld kosten. In Budapest lautete die Order noch anders, Norris musste auf Siegkurs vor dem Ziel Piastri vorbeilassen nach einem Strategiefehler.
Der Australier bemühte sich, den Vorsprung zu vergrößern und fuhr schnell. Was Norris dann aber viel größere Probleme bereitete, war ein Fahrfehler in der vierten Kurve, er musste eine Abzweigung nehmen. Auf Piastri verlor er so wertvolle Sekunden, Leclerc kam näher ran – und dann musste Norris in der 33. Runde auch noch an die Box abbiegen, weil ein Reifen zu stark beschädigt war. Er fiel deutlich zurück. Vor ihm lagen nun Piastri, Leclerc, Sainz, Hamilton und Verstappen.
Das gleiche Problem mit dem linken Vorderreifen meldete dann auch Piastri, er bog in der 39. Runde ab und kam hinter Leclerc und Sainz als Dritter zurück. „Ein Einstopp war nicht möglich. Ich bin natürlich enttäuscht“, sagte Norris später dazu. Die anderen Teams zogen nach – außer Ferrari. Die beiden Titelkonkurrenten Verstappen und Norris lagen nun eng beieinander. Norris kam in der 41. Runde am Red Bull vorbei, dadurch war er wieder direkt hinter Piastri, aber die beiden Ferrari lagen zehn Runden vor dem Rennende noch vor den McLaren. Würde es für eine Aufholjagd zum Sieg reichen? Nicht ganz, Leclerc konnte bis zum Schluss einen Vorsprung halten – zur Freude von Zehntausenden Ferraristi im Königlichen Park von Monza.