Das Monster liegt mitten im Grünen, geschützt von einer alten Mauer und steinernen Toren. Im königlichen Parco hat fast alles etwas liebliches oder einen leicht morbiden Charme. Das Autodromo Nazionale ist die älteste Rennstrecke des Kontinents, sie wird 100 Jahre alt, und sie ist so schnell und gefährlich wie eh und je. Zum Mythos Monza gehören Tempo, Triumphe und Tragik. Es gibt keinen besseren, emotionaleren Abschied von der Europasaison der Formel 1 als diesen. Schon die Qualifikation mit dem Tagesbesten Charles Leclerc war eine gelungene Generalprobe.
Monza ist von Anfang an eine fixe Größe im Kalender gewesen: 70 von bisher 71 Großen Preisen von Italien sind in der Mailänder Vorstadt ausgetragen worden, mehr als auf jeder anderen Grand-Prix-Strecke. 1980 musste aus Sicherheitsgründen Imola einspringen. Doch wo das automobile Herz der Italiener schlägt, ist eindeutig. Passione e potenza, die Leidenschaft und die Kraft treiben Zehntausende in ihren Parco. 1922 war die Höchstgeschwindigkeitspiste als Antwort auf Indianapolis aus dem Boden gestampft worden. Naturschützer hatten so lange gegen die geplante 14 Kilometer lange Schleife protestiert, dass für den Bau nur 101 Tage blieben. Bei noch verbliebenen zehn Kilometern Piste ein Rekordtempo, von Anfang an.
Bis heute, wo die Asphaltschlange nur noch knapp 5,8 Kilometer misst und die beiden langen Steilkurven nur noch als Relikte großer Rennvergangenheit vor sich hin darben, erfüllt der Kurs das Versprechen des Temporauschs. Locker 80 Prozent Vollgas, Höchstbeanspruchung von Bremsen und Reaktionsvermögen des Fahrers. Das belegen ein paar Zahlen, bei denen einem schwindlig werden kann. Lewis Hamilton schaffte vor zwei Jahren mit einem Schnitt von 264,363 km/h die schnellste je gefahrene Qualifikationsrunde der Königsklasse. Michael Schumacher, der wie Hamilton auf fünf Italien-Siege kommt, gewann 2003 den schnellsten Grand Prix der Formel-1-Geschichte - er dauerte lediglich eine Stunde und 14 Minuten, der Schnitt lag bei fast 248 km/h.
Neben Leclerc steht Mercedes-Hoffnung George Russell in der ersten Reihe
Ferrari opfert für das Jubiläum von Monza und den 75. Jahrestag des ersten Straßen-Ferrari ein Stück weit sogar das traditionelle Herzblut-Rot und mischt bei Autos wie Teamkleidung ein besonderes Gelb bei. Der Farbton ist dem Wappen von Modena entnommen, aber er wirkt wie eine Warnfarbe. Am Morgen hat Ferraris Präsident John Elkann im nationalen Mitteilungsblatt für Sportfans, der Gazetta dello Sport, ausgiebig über Herkunft und Zukunft referiert. Der Manager und Firmenerbe zählte nicht nur bisher 19 Heimsiege für seine Scuderia auf, sondern rechnete noch acht für Alfa Romeo und je zwei für Fiat und Maserati hinzu. Erstmals seit Covid-Zeiten werden am Sonntag die Tribünen von Monza wieder komplett voll sein. Und natürlich wird es für die allermeisten Zuschauer nur ein gutes Rennen sein, wenn am Ende ein Fahrer in besagtem gelben Rennanzug ganz oben auf dem über der Boxengasse schwebenden Siegespodest steht. Während Monza den Mythos atmet, erstickt Ferrari fast daran.
Angesichts dieser Erwartungshaltung und im Wissen um die letzten drei eher jämmerlichen Vorstellungen des italienischen Teams hört man Mattia Binotto förmlich tief Luft holen. Der Teamchef, der die Truppe über den Winter zu einem Mitfavoriten getrimmt hat, bekam am Samstag zunächst Streicheleinheiten von Elkann: "Wir haben großes Vertrauen in Mattia Binotto und wertschätzen alles, was er und unsere Ingenieure geleistet haben."
Im Nachsatz mahnt er allerdings an, dass die Arbeit aller besser werden müsse, explizit auch die des Managementteams - schnell und schlampig, damit soll jetzt Schluss sein: "Wir haben gesehen, dass noch zu viele Fehler passieren, wenn es um die Zuverlässigkeit, das Fahren und die Strategie geht." In Wirklichkeit stellt Elkann also ein nett verkleidetes Ultimatum: "Ich glaube, Ferrari kann noch vor 2026 Fahrer- und Konstrukteurs-Weltmeister werden, mit Charles Leclerc auf der Pole-Position."
Ganz hinten beim 16. WM-Lauf stehen Lewis Hamilton und Yuki Tsunoda
Der Monegasse war 2019 Ferraris letzter Sieger im Autodromo, und aufgrund einer Flut von Motorenstrafen und Rückversetzungen der Konkurrenten hätte er die Pole-Position nur verlieren können. Doch der Pechvogel des bisherigen Rennjahres hat sie nervenstark mit der letzten Runde vor Red-Bull-Gegenspieler Max Verstappen und Teamkollege Carlos Sainz gewonnen. Die Startaufstellung sieht aufgrund der angesprochenen Verschiebungen aber anders aus, neben Leclerc steht Mercedes-Hoffnung George Russell in der ersten Reihe. WM-Tabellenführer Verstappen startet von Position sieben aus, damit hat der Niederländer weiter alle Chancen - ein Monza-Sieg fehlt ihm bislang noch.
Die endgültige Zusammensetzung des Starterfeldes war ein Fall für Arithmetiker, was sich allein an Mick Schumachers Beispiel zeigt: Mit einem Haas-Ferrari, den er aufgrund technischer Pannen kaum im Training fahren konnte, klassierte er sich als Letzter. Dazu bekam er für einen Getriebewechsel noch fünf Strafplätze drauf, aber starten wird er vom 17. Rang aus. Ganz hinten beim 16. WM-Lauf stehen jetzt Lewis Hamilton und Yuki Tsunoda. Würfelspiele sind einfacher zu begreifen. Sebastian Vettel hat bei seinem letzten Rennen in Europa erneut einen zu langsamen Aston Martin, er rückt aber auf Rang elf vor.