Mercedes in der Formel 1:Spuren des Verfalls

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Nicht mehr ganz so dominant wie einst: Mercedes-Pilot Lewis Hamilton. (Foto: Nicolas Tucat/AFP)

Mercedes ist das mit Abstand erfolgreichste Team der Formel 1. Doch nun mehren sich die Sorgen bei dem Rennstall von Weltmeister Lewis Hamilton - weil die einst Unfehlbaren Fehler begehen. Und weil Konkurrent Red Bull seine Ressourcen bündelt.

Von Philipp Schneider

Wann die Kunst des Laminierens erdacht wurde, das ist eine Frage, die selbst von Historikern nicht präzise beantwortet werden kann. Dafür sind die Vorteile des Verfahrens unstrittig. Beim Laminieren werden Dokumente mit Hilfe von Hitze und Druck in Folie eingeschweißt, so erhalten sie einen optisch ansprechenden Rundumschutz. In der Zentrale des Formel-1-Rennstalls Mercedes im britischen Brackley haben sie vor geraumer Zeit beschlossen, sich die Exzellenz der Lamination zunutze zu machen.

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Noch bevor im Frühjahr die Krokusse aus der Erde schießen und bei den Testfahrten die Motoren angeschmissen werden, bekommt in Brackley jeder Mitarbeiter seine persönlichen Ziele sowie die Unternehmensziele überreicht. Beides auf einem Blatt. Schön sauber laminiert. Er soll sie ja immer mit sich tragen. Vor zwei Jahren, als der Rennstall noch zwei Fahrer- und Konstrukteurs-Weltmeisterschaften weniger gewonnen hatte, war da zu lesen: "Wir haben uns die unglaubliche Möglichkeit erarbeitet, beide Titel zum sechsten Mal nacheinander gewinnen zu können. Um diese Herausforderung zu umarmen, müssen wir besser werden als jemals zuvor." Ja, umarmen.

Wer seine Ziele dauerhaft vor Feuchtigkeit und Schmutz behütet und dann erst verteilt, der strebt die vollständige Kontrolle über sein Schicksal an.

Seit 2014 sind alle 14 relevanten Trophäen in der Formel 1 an Mercedes gegangen

Dieser kleine Ausflug in die Welt der Perfektionisten war notwendig. Um zu begreifen, wie tief der Sturz ausfallen wird, sollte die Mannschaft um den allzeit auch gedanklich laminierten Teamchef Toto Wolff in dieser Saison mal neben die Pokale greifen. Seit 2014, seit der Einführung der hochkomplexen Hybrid-Motoren in der Formel 1, sind alle 14 relevanten Trophäen in die Vitrine nach Brackley gewandert. Mercedes ist nicht nur die erfolgreichste Truppe der Rennsportgeschichte. Wer außerhalb der Formel 1 nach einem ähnlich dominanten Team forstet, der stößt allenfalls auf die All Blacks, Neuseelands Rugby-Nationalmannschaft, die sich einer Gewinnquote von 77,41 Prozent in den Spielen zwischen 1903 und 2019 rühmt.

Wenn es stimmt, dass jedes Imperium die Anzeichen seines Verfalls in sich trägt, erklärt das, weswegen sie sich seit dem Großen Preis von Frankreich von Sonntag sorgen bei Mercedes. "Bei uns ist der Wurm drin", sagte Wolff. Der Wurm, das muss man wissen, galt rund um Brackley als fast ausgerottet, er wird konsequent auf der Roten Liste geführt.

"Zwei Siege und einen zweiten Platz verloren": Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff war nach dem Großen Preis von Frankreich alles andere als glücklich. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Wolff bezog sich mit dem Gleichnis aus dem Tierreich auf die Bilanz der vergangenen zwei Rennen: "Zwei Siege und einen zweiten Platz verloren." Aber diese Bilanz verschwieg noch den bedauerlichsten Aspekt: Die zwei Siege wurden ausgerechnet von Protagonisten verschenkt, die sich über die Jahre einen Ruf der Unfehlbarkeit erarbeitet haben. Von Lewis Hamilton, dem jetzt schon laut fast aller Statistiken besten Fahrer der Geschichte. Und von der Strategie-Abteilung von Mercedes, die sich aus lauter schlauen Leuten von den britischen Elite-Universitäten rekrutiert.

In Baku verspielte sich Hamilton vor einem Re-Start an den bunten Knöpfen seines Lenkrads, verstellte die Bremsen, fuhr in Führung liegend in einer Kurve geradeaus. In Le Castellet schickten die Strategen Hamilton zu spät zum Reifenwechsel. Und als er wieder rausfuhr aus der Box, da sauste zur Überraschung der Strategen, die das ganz anders berechnet hatten, der Red Bull von Max Verstappen an ihm vorbei. Die Führung war futsch - und Verstappen baute seinen Vorsprung in der Gesamtwertung aus.

Schon in Monaco zuletzt hatten die Strategen daneben gelegen, da schickten sie Hamilton zu früh an die Box und er verlor deshalb zwei Plätze. Alles sehr ungewöhnlich.

In Frankreich wurde der Triumph von Red Bull noch versüßt, indem sie die Silberpfeile mit einer Waffe besiegten, auf die Mercedes nach den erfolgreichen Erprobungen auf dem Hungaroring 2019 und in Barcelona 2021 ein Patent zu besitzen schien: Verstappen opferte vorübergehend die Renn-Führung, um in den Genuss eines schönen Satzes frischer Reifen zu gelangen, auf denen er Hamilton beim folgenden Überholmanöver mühelos demütigen konnte. Adaption nennt man im Tierreich das Kopieren von Überlebensstrategien im Laufe der Evolution. Die von Red Bull könnte nach sieben titellosen Jahren endlich einen Satz nach vorne gemacht haben. Und es ist eine Pointe der launigeren Art, dass die japanischen Konstrukteure von Verstappens Motor ausgerechnet in jenem Jahr ihr Meisterwerk vollbracht haben, in dem sie ihr Sayonara aus der Formel 1 angekündigt haben: Auf einer Mercedes-Strecke brauste der Honda-Verstappen seinem Konkurrenten Hamilton nun erstmals auch auf der Geraden davon.

Es mag sein, dass die Verschiebung der Machtverhältnisse auch damit zu tun hat, dass sich Red Bull sportlich ganz auf die aktuelle Saison konzentriert - und weniger Ressourcen für die Entwicklung des Autos aufwendet, das im kommenden Jahr nach einem einschneidenden Reglementwechsel kreisen wird. Aber selbst wenn - es wäre ja eine nachvollziehbare Strategie.

Das Römische Reich, hat Wolff mal gewarnt, sei einst untergegangen, weil ihm die ebenbürtigen Gegner ausgingen. "Es gab nichts mehr zu erobern. Und wenn es nichts mehr zu erobern gibt, du in Selbstzufriedenheit verfällst, dann zerfallen Reiche." Und sagen wir so: Die vergangene Saison war aus Sicht von Mercedes sehr, sehr langweilig. Vielleicht haben sie ja vorübergehend genug Pokale umarmt.

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