Süddeutsche Zeitung

Mercedes in der Formel 1:"Das ist wahrhaftig unser stärkster Start jemals"

  • Von den bisherigen vier Saisonrennen der Formel 1 hat Mercedes ausnahmslos jedes gewonnen.
  • Einige Tage vor der Saison war davon jedoch noch nichts zu erahnen.
  • Ferrari hadert indes mit seinen Reifen - und der Titellosigkeit der letzten Jahre.

Von Philipp Schneider

Es war zehn Tage vor dem ersten Rennen in dieser Saison in der Formel 1, als es hektisch wurde im Hauptquartier von Mercedes in Brackley. Mehr als 700 Mitarbeiter beschäftigt Toto Wolff in der am Fluss Great Ouse gelegenen Gemeinde in der englischen Grafschaft Northamptonshire. Die wenigsten von ihnen leben in dem Ort, der seinen 13 000 Einwohnern außer der Rennwagenfabrik im Grunde nur noch eine nach Maria Magdalena benannte Schule zu bieten hat, in der sich im 15. Jahrhundert eine Schülerschaft aus Oxford vor der großen Pest in Sicherheit gebracht haben soll.

Nun aber wurde es laut in Brackley, ein Bohren und Dröhnen schwoll an vor der Zentrale von Mercedes in jener Woche, nachdem alle Rennteams letztmals vor dem Auftakt ihre Ausrüstung getestet hatten und die Scuderia Ferrari in Barcelona allen anderen davon gefahren war - auch Lewis Hamilton und den Ingenieuren von Mercedes. Zehn Tage vor Rennstart schickte Toto Wolff die Handwerker los. Runter an den kleinen Bach, der das Firmengelände quert.

An dessen Ufer schütteten die Männer frische Erde auf, setzten Steine, baggerten Löcher, Gärtner kamen dazu und pflanzten junge Sträucher. "Das ist so eine der letzten Baustellen, die wir hier haben, ansonsten ist schon sehr vieles renoviert", erzählte Wolff, während er mit dem Besucher aus seinem Büro hinunterblickte auf den neuen Bachlauf, der in der englischen Fachpresse bereits als "meditativ-funkelnder Strom" gefeiert wurde.

Gelassenheit und ein Trick führen zum Erfolg

Zehn Tage vor Saisonstart dämmerte dem Besucher in Brackley, dass Toto Wolff nicht sonderlich besorgt wirkte angesichts der Dominanz von Ferrari in den Tests. Im Gegenteil. Er war eher so drauf wie ein Schuljunge vor seinem ersten Besuch im Bonbonladen und berichtete davon, dass er, um Moral und Motivation in der Truppe zu heben, mal wieder versucht hatte, die Erinnerungen an die vielen Trophäen aus dem Gedächtnis seiner Leute zu löschen. Am der Auffahrt zur Mercedes-Zentrale gibt es eine Schautafel, die die Erfolge auflistet. Normalerweise müssten dort die Spuren von fünf gewonnenen Fahrerweltmeisterschaften und fünf Konstrukteursweltmeisterschaften aus den vergangenen fünf Jahren zu entdecken sein. Aber jetzt? Tabula rasa. Illusion eines titellosen Zustands. Der Trick funktioniere tatsächlich, erklärte Wolff. Allerdings hatte der Erfolg so viele Reliquien zurückgelassen, dass noch immer einige rumstanden in Brackley. All die Pokale. Die originalen Rennwagen von Lewis Hamilton und Nico Rosberg parkten zwischen den Schreibtischen in den Fluren der Großraumbüros.

Und auch ein Fotobuch der Saison 2016 lag für den Besucher aus. Vor drei Jahren teilten Rosberg und Hamilton 19 Siege in 21 Rennen allein unter sich auf, am Ende der Saison hatte Mercedes 765 Punkte gesammelt, gefolgt von Red Bull mit 468. Ferrari und Sebastian Vettel fanden erst in den zwei Jahren darauf in die Spur. In einer Phase, in der die Scuderia grundsätzlich besser, immer schneller wurde. In der sich Vettel und Hamilton hinreißende Rad-an-Rad-Duelle lieferten. Eine Sache dämmerte dem Besucher zehn Tage vor Saisonstart deshalb ganz und gar nicht: Dass Mercedes vier Doppelsiege in Serie feiern, dass zweimal Valtteri Bottas, zweimal Hamilton gewinnen würde. Dass Mercedes diesmal besser starten würde als jedes Team zuvor.

Und nun, am frühen Sonntagabend, sitzt der fünfmalige Weltmeister auf einem Podium in Baku und sagt: "Das ist wahrhaftig unser stärkster Start jemals." Dann lobt er Bottas. "Valtteri ist in diesem Jahr happy in seinem Auto, er liefert ab und fährt fantastisch." Beide Piloten bedürften künftig einer großen "Performance", um den jeweils anderen zu besiegen, referiert Hamilton. Von einem Duell mit Vettel muss er gar nicht mehr reden. "Hoffentlich wird Ferrari irgendwann mit dabei sein." Ja, hoffentlich. Irgendwann.

"Es ist langweilig, nicht? So langweilig! Es sind ja nicht nur vier Rennen, sondern mehr oder weniger vier Jahre", antwortet Vettel ironisch, als sich Journalisten am Sonntag nach seiner Zufriedenheit erkundigten. Vierter in Melbourne. Fünfter in Bahrain. Dritter in Shanghai. Dritter in Baku. Man ahnt, dass er sich die besten Fotos dieses Saisonstarts eher nicht an die Wand hängen wird. "Man muss respektieren, dass sie phänomenal arbeiten", sagt Vettel und fügt hinzu: "Ich bin aber optimistisch, ich glaube an unser Team."

Es mag paradox anmuten, aber das darf er tatsächlich. Auch weil sein Teamkollege Charles Leclerc in einer perfekten Welt mindestens einmal, vielleicht zweimal gewonnen hätte: In Bahrain wurde der 21-Jährige nur von einem Technikdefekt gestoppt. Und in Baku brachte sich Leclerc, nachdem er in allen Trainingseinheiten und der Qualifikation am schnellsten gefahren war, um die Pole Position, als er seinen Ferrari an der engsten Stelle gegen eine Mauer setzte.

Auch weil die Scuderia ihn im falschen Moment mit den rutschigen Medium-Reifen auf die Strecke geschickt hatte. Im Rennen gelang es Vettel nicht, die weicheren Reifen auf die nötige Temperatur zu bringen, um den Mercedes an der Spitze zu folgen. Die Reifen. Immer wieder sind die Reifen das Problem. Der Antriebsstrang des Ferrari SF90 ist ja sogar stärker als jener der Silberpfeile.

Ein Rennwagen, erklärt Vettel in Baku, sei "wie ein überdimensionaler Zauberwürfel, bei dem alle Felder passen müssen, um das Rätsel zu lösen". Er sei sicher, dass die Ingenieure bis zum Auftakt der Europa-Tournee in Barcelona in der nächsten Woche das Rätsel lösen könnten.

Und falls nicht? Dann freut sich ein anderer Fahrer, der über den Saisonstart sagt: "Es gibt nichts, was daran langweilig ist!" Der Fahrer darf das sagen, weil er einen Punkt mehr als Hamilton gesammelt hat und das Klassement anführt. Valtteri Bottas ist derzeit nicht nur happy in seinem Auto. Auch nach dem Aussteigen.

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Quelle:
SZ vom 30.04.2019/drim
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