Formel 1:Meisterwerk mit Intermission

*** BESTPIX *** F1 Grand Prix of Italy

Neue Perspektive: Erstmals stand Pierre Gasly oben auf dem Podest.

(Foto: Mark Thompson/Getty Images)

2019 wurde Pierre Gasly von Red Bull in einen Alpha Tauri degradiert. Beim ersten Außenseitersieg in der Formel 1 seit 2013 gelingt ihm die Revanche.

Von Philipp Schneider, Monza/München

Alle paar Jahre erzählt der Rennsport eine seiner beliebtesten Geschichten. Es ist die alte Geschichte vom Außenseiter, der siegt, und der so die Faszination darüber aufleben lässt, dass das Unwahrscheinliche doch wahr werden kann. Manchmal überwindet der Außenseiter dabei widrige Umstände. Er ringt zwar keinen Drachen nieder, aber es kommt ab und zu vor, dass er sich zum Helden aufschwingt, indem er sich zwar auf einem müden Gaul durchschlagen muss, sich dabei aber geschickter anstellt als all die schillernden Reiter auf ihren flinken Mähren.

Sebastian Vettel gewann 2008 sein erstes Formel-1-Rennen in einem Toro Rosso, als über der Rennstrecke von Monza ein unüblicher Regen niederging und niemand mit den wechselhaften Bedingungen besser zurechtkam als er. Kimi Räikkönen siegte 2013 in einem Lotus in Melbourne, weil niemand so schonend mit den Reifen umging wie er: Alle anderen hielten dreimal, Räikkönen nur zweimal.

Die Geschichte von Pierre Gaslys erstem Sieg in der Formel 1, den er am Sonntag in einem Alpha Tauri auf dem Autodromo Nazionale in Monza erlebte, ist keine Heldengeschichte nach verstaubtem Lehrbuch. Sie ist besser, viel überraschender. Und wie in so vielen Meisterwerken, wie in "Lawrence von Arabien" und "Der Pate Teil zwei", gab es auch in Gaslys Geschichte zur Halbzeit eine Unterbrechung: eine 21-minütige Intermission, einen Rennabbruch, den Lewis Hamilton nicht wie ein Kinobesucher zum Toilettenbesuch nutzte, sondern für einen Gang zur Rennaufsicht. Denn kurz vor der Pause, die Charles Leclerc mit einem heftigen Abflug in der Parabolica auslöste, hatte es eine Safety-Car-Phase gegeben, die Gaslys und Hamiltons Schicksal eine feine Wendung verlieh.

Minuten nach der Siegerehrung saß Pierre Gasly noch immer auf dem Podest. Seine Gesellschaft bestand nur noch aus dem Pokal und einer leer gespritzten Flasche Schampus. Gasly stützte seinen gedankenschweren Kopf mit der linken Hand. Dann blieb er sitzen. Und sitzen. "Mir ging so viel durch den Kopf", sagte er später, "und man weiß nie, ob man solche Momente jemals wieder erlebt." Gasly, 24, geboren in Rouen, war nun der erste französische Rennsieger seit Olivier Panis 1996 in Monte Carlo. Und der erste Pilot seit Räikkönens sanfter Fahrt im Lotus 2013, dem das in einem Auto gelungen war, das kein Mercedes, Ferrari oder Red Bull war.

Was in Gaslys Kopf vor sich ging? Vielleicht jene Gratulation von Frankreichs Staatspräsident Emanuel Macron, die nur auf seiner Mailbox gelandet war. Vielleicht auch dieser Boxenstopp in der 19. Runde, als Gasly dachte, er hätte das Rennen verloren, es in Wahrheit aber gerade gewann.

In Runde 19 war Gasly soeben erst als Zehnter auf frischen Reifen zurück auf die Strecke gerollt, als er erfuhr, dass das Safety-Car ausrücken würde. "Normalerweise ist es der schlechteste Zeitpunkt, in dieser Situation an der Box gewesen zu sein", erzählte Gasly später. Weil ja die Konkurrenz Zeit sparen würde beim Reifenwechsel unter reduzierten Geschwindigkeiten. Doch am Sonntag in Monza, als eine Bremsleitung an Sebastian Vettels Ferrari explodierte und an seinem Heck Flammen emporstiegen, war so gut wie nichts normal.

Weil der havarierte Rennwagen von Kevin Magnussen an einer Stelle abgestellt worden war, an der er sich nicht einfach hinter die Streckenbegrenzung schieben ließ, beschloss die Rennleitung, ihn zurück in die Boxengasse zu rollen. Diese Entscheidung hatte zwei Konsequenzen: Die Boxengasse wurde geschlossen für alle Verkehrsteilnehmer, während das Feld verlangsamt hinter dem Safety-Car fuhr, was Gasly Anschluss finden ließ. Zweitens übersah Lewis Hamilton, der blitzschnell und vermeintlich blitzgescheit auf die Ausfahrt des Sicherheitsfahrzeugs reagierte, die zwei rot blinkenden Kreuze auf der linken Streckenseite, die ihm sagen wollten: Fahre nicht in die Boxengasse! Diese ist gesperrt! Er fuhr rein - weil er keine rote Ampel sah, die sonst üblich ist. Dafür erhielt er eine Durchfahrtsstrafe, die ihn letztlich 29 Sekunden kostete und Gasly den Rennsieg überhaupt erst ermöglichte.

In der Rennpause besuchte Hamilton also die Stewards, sie zeigten ihm Bilder seiner Onboard-Kamera. Darauf astrein zu sehen: die zwei blinkenden Kreuze. Hamilton war einsichtig, fragte aber: Wer schaut auf die linke Seite in einer Rechtskurve?

Nachdem wenig später Leclerc verunfallte und die Intermission auslöste, gab es einen zweiten stehenden Start. Gasly parkte dank seines Boxenstopps auf Position drei. Vor ihm nur noch: Hamilton, der noch seine Strafe absitzen musste, und Lance Stroll im Racing Point. Der allerdings hyperventilierte angesichts eines möglichen Sieges. Mehrmals verlor er den Asphalt unter den Rädern. Von da an musste Gasly nur noch seinen Vorsprung vor Carlos Sainz im McLaren ins Ziel bringen, der bei zeitig geöffneter Boxengasse zuvor im Rennen vor Gasly gefahren wäre. Seine Ingenieure bewahrten Gasly mit einer Flunkerei davor, die Träumereien vorschnell schweifen zu lassen: Gasly habe eh keine Chance auf den Sieg, funkten sie. Hamilton pflüge von hinten durch das Feld, werde gewinnen. Auf seiner Flucht fuhr Gasly Schlangenlinien, schlug Haken wie ein Hase, um Sainz wenig Windschatten zu spenden; 0,4 Sekunden betrug sein Vorsprung am Schluss. Eine Runde später wäre Sainz wohl vorbei gewesen.

Pierre Gasly hat sich also durchgeschlagen auf seinem müden Gaul. Dass er davon profitierte, dass manch schillernder Reiter unglücklich im Morast versank, daran soll nicht gemäkelt werden. Gasly hatte sich den Sieg mit seiner Resilienz verdient, die er sich in der menschlich komplizierten Welt von Red Bull aufgebaut hat.

Im Vorjahr war Gasly durch eine Prüfung gefallen, nachdem ihm eines der sechs besten Cockpits angeboten worden war. Neben Mercedes und Ferrari - Anmerkung für alle jüngeren Leser: Es gab eine Zeit, in der rote Rennwagen nicht brannten, sondern siegten - war Red Bull damals die bestimmende Kraft. Gasly fiel nicht etwa durch die Prüfung, weil er nur langsamer war als Teamkollege Max Verstappen: Er ließ sich von ihm regelmäßig überrunden. Da hörte der Spaß auf für Helmut Marko, Red Bulls Motorsportkonsulenten. Gasly wurde degradiert in einen Alpha Tauri.

"Ich habe mich verletzt gefühlt und hatte den Eindruck, dass ich nicht fair behandelt wurde", erzählte der Rennsieger Gasly über diesen Moment nun, als ihm die Welt endlich mal zuhörte. Hamilton sekundierte ihm; spielte darauf an, dass Red Bull ohne Punkte geblieben war: "Er hat das Team geschlagen, dass ihn degradiert hat. Das muss ihnen bestimmt weh tun."

So eine Chance zur Stichelei gegen den einzigen verbliebenen Konkurrenten erkennt Hamilton so flink wie die Einfahrt zur Boxengasse.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: