Es gibt unterschiedliche Rechenweisen, um sich dem Fortgang einer Formel-1-Saison zu nähern, die als die spannendste seit dem Titelgewinn von Sebastian Vettel 2010 und dem Saisonstart 2012 mit sieben unterschiedlichen Gewinnern gilt. Den Optimisten dient dazu eine Tabelle, die allein die letzten sieben Rennen vor der Sommerpause berücksichtigt: Demnach würde Titelverteidiger Max Verstappen vor dem Großen Preis der Niederlande am Wochenende nur mit einem Pünktchen vor Rekordweltmeister Lewis Hamilton führen, einen weiteren Zähler zurückläge McLaren-Hoffnung Oscar Piastri.
Die Rechnung ist mehr als nur ein Zahlenspiel, denn sie sagt vor allem aus, dass dieses Rennjahr aus den unterschiedlichsten Gründen gekippt ist – weg vom Alleinherrscher Verstappen, hin zu echtem Wettbewerb. Tatsächlich kann von den vier großen Rennställen Red Bull Racing, Mercedes, Ferrari und McLaren derzeit jeder ein Rennen gewinnen, es fährt nicht nur der eine große Favorit wie in den vergangenen beiden Jahren.
Vor allem gibt es einen Mann, der mit 39 Jahren nach der größten Schaffenskrise seiner Laufbahn ein beachtliches Comeback hingelegt hat: Lewis Hamilton, geadelt als Sir und Rekordweltmeister, hat sein Auto und seinen Sport wieder lieben gelernt.
Wen interessiert es da schon, dass in der tatsächlichen WM-Wertung Verstappen mit komfortablen 78 Punkten auf Lando Norris führt und Hamilton als Sechster bereits 127 Zähler zurückliegt? Wenn Hamilton verspricht, dass „ein höllisch starker Rest des Jahres“ bevorsteht, dann ist das aus seiner Perspektive sogar statistisch gestützt, denn die zweite Saisonhälfte ist meist seine bessere. Scheinbar ganz uneigennützig urteilte der Brite: „Es ist wirklich fantastisch für den Sport, dass die Teams und Fahrer so eng beieinander liegen. Wir haben gar nicht erwartet, dass wir zu diesem Zeitpunkt der Saison mit den Spitzenreitern konkurrieren können.“
Mittlerweile stellt sich für Hamilton die Frage: Ist sein Wechsel zu Ferrari wirklich so geschickt?
Da hat einer etwas zu beweisen, oder, aus seiner Sicht: richtigzustellen. 1000 Tage ist jenes skandalumwitterte Finale von Abu Dhabi bald her, als ihm Max Verstappen auf der letzten Runde den achten Titel noch entreißen konnte. Seither warten er und die Mehrheit der Formel-1-Fans auf eine echte Revanche. Am Willen hat es sicher nicht gelegen, dass Hamilton bis zu diesem Sommer kaum auf Augenhöhe mit seinem Nachfolger als Abo-Weltmeister fahren konnte, wohl aber an seinem Dienstwagen. Nach zwei Jahren voller Silberpfeil-Experimenten fühlte sich Hamilton weit im Hintertreffen, zudem nicht gehört bei den Ingenieuren – so konnte ihn Ferrari für 2026 abwerben.
Seit aber Mercedes technisch die Kehrtwende geschafft und bei Hamilton die Lust den Frust abgelöst hat, stellt sich auch die Frage zu jenem Transfer anders, der die ganze Formel 1 erschüttert hat. Hieß es nach dem verhaltenen Saisonauftakt Hamiltons bislang, dass Ferrari vielleicht einen Fehleinkauf getätigt haben könnte (zu alt! zu satt! zu eigensinnig!), muss sich jetzt der Fahrer fragen, ob er den Wechsel bedauert. Image her oder nicht: Jemand, der 105 Rennen gewonnen hat, ist nicht nur süchtig nach Aufmerksamkeit, sondern vielmehr nach Siegen.
Die Aufholjagd von Mercedes und die Stagnation bei Red Bull zeugen auch davon, dass das technische Reglement ausgereizt ist, Aufwand und Ertrag teurer Upgrades während der Saison stehen bei den Top-Teams kaum noch im Verhältnis, sie haben ein Plateau erreicht. Neue Regeln, andere Motoren und Autos gibt es erst wieder 2026. Ein Status quo, der für viel Ungewissheit selbst bei den routinierten Fahrern und Teamchefs sorgt, aber gut für die Spannung ist. Lewis Hamilton sagt stets, dass er seine Entscheidung nicht rechtfertigen muss, was nicht zwingend bedeuten muss, dass er sie nicht doch bereut. Aber wer hätte noch im Winter mit einer solchen Veränderung der Kräfteverhältnisse rechnen können?
Bald mit Hamilton in einem Team? Leclerc redet sich die Lage schön
Vielmehr ist die Kampfansage Hamiltons auch als kleiner Vorgeschmack für das gedacht, was den Ferrari-Zögling und bisherigen Liebling Charles Leclerc künftig erwarten wird: Wenn der Brite den Lauf hat, dann ist er schwer zu stoppen, wovon Nico Rosberg jahrelang ein Lied singen konnte. Jeder Erfolg in Silber in dieser Saison wird damit auch zum Ausrufezeichen in Rot. Es ist ja schon eine interessante Frage, wen Ferrari in der kommenden Saison als Nummer eins und wen als Nummer zwei in die WM schickt. Leclerc, in seinen Leistungen nicht immer stabil, sieht sich in diesem Fernduell durch die Unsicherheit der technischen Abteilung bei der Scuderia gehandicapt, es wird zu viel probiert und dann wieder verworfen. Jeder hat da seine eigene These, auch die Fahrer. Es ist jene Instabilität, die lange auch das Problem von Mercedes war.
„Ich glaube, es war für uns alle ein paar Jahre lang schwierig, das Auto so weit zu bringen, dass wir konstant um Siege kämpfen können. Aber ich bin jetzt sehr motiviert“, frohlockte Hamilton: „Die zweite Hälfte der Saison führt schließlich auf das Jahr 2025 hin.“ Für Ferrari kann der Umschwung bei Mercedes und Hamilton prinzipiell nur gut sein, sammelt der Fahrer doch in der veränderten Situation reichlich mentale Energie, die er für den Neustart im Frühjahr in Maranello gut gebrauchen kann.
Der künftige Rivale Charles Leclerc, Dritter in der WM-Wertung mit 177 Punkten, redet sich die künftige Auseinandersetzung im internen Arbeitskampf schön, so gut es eben geht: „Das ist super interessant und super motivierend für mich, ich kann viel lernen. Und ich kann zeigen, was ich im gleichen Auto wie Lewis leisten kann.“ Er wird genau beobachten, was sein baldiger Teamkollege in der zweiten Saisonhälfte so anstellt, schon am kommenden Wochenende in Zandvoort.