Der Einzige, der vom Aufmerksamkeitsgrad her Lewis Hamilton beim Großen Preis von Großbritannien nahekommen kann, ist Brad Pitt. Der nordamerikanische Schauspieler ist der Held in einem schlicht „F1“ betitelten Hollywoodstreifen, der vom kommenden Sommer an zu sehen ist. Kurz vor dem Halbzeit-Grand-Prix der aktuellen Formel-1-Saison erlaubte das Studio einen kurzen Blick auf den Rennfilm, Pitt sagt darin den programmatischen Satz: „Gibt es irgendetwas, was in diesem Sport sicher ist?“ Gut zwei Stunden später wird Hamilton, der zu den Produzenten zählt, diese Frage, die eigentlich eine Feststellung ist (Antwort: nein), in der Realität übertroffen haben, mit einem Sieg der Marke historisch.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, oder besser gesagt, aus der Gischt, blickte Lewis Hamilton von der obersten Stufe des Podiums in Silverstone nicht nur auf die gewaltige Kulisse von 164 000 Zuschauern, die wie ein Meer aus Union Jacks erschien. Auch die vergangenen 945 Tage dürften vor seinem Auge vorbeigezogen sein. Zweieinhalb Jahre ohne Sieg, seit November 2021. Dann ertönte die britische Hymne – und die Gänsehaut unter dem feuerfesten Rennanzug kehrte zurück. „Es ist die größte Ehre, die man sich vorstellen kann, dort oben zu stehen und zum ersten Mal die Nationalhymne zu Ehren des Königs zu hören“, sagte Hamilton. Als der Brite zuletzt hier feiern durfte, hieß das Lied noch God Save the Queen.

Formel 1:Denn sie wollen volle Pulle
Max Verstappen und Lando Norris haben sich nach dem Crash von Spielberg ausgesprochen und bleiben wohl Freunde. Zum nächsten Unfall kann es dennoch jederzeit kommen – auch in Silverstone.
Tränen liefen ihm übers Gesicht, die Stimme kündete davon, dass diese Gefühle keine Show sind. „Das ist mir noch nie passiert, ich konnte einfach nicht aufhören zu heulen“, gestand der 39 Jahre alte Rennfahrer später, „das ist vermutlich das emotionalste Ende eines Rennens, das ich je hatte.“ Es war sein letztes Heimspiel in Silber, ein Abschied von der Mercedes-Familie, zu der er zählt, seit er 13 war. Der er alles zu verdanken hat. Im kommenden Jahr wird er im Ferrari vorfahren, deshalb hatte er jetzt noch einmal seine Verwandten an die Strecke geholt.
Hamilton schnappt Michael Schumacher eine weitere Bestmarke weg
Mutter Carmen und Vater Anthony, Bruder und Schwester, Neffen und Nichten erlebten Lewis Hamilton in Hochform. 17 Jahre und ein Monat liegen zwischen seinem ersten und dem jüngsten Sieg in der Formel 1, seinem mittlerweile 104. Sieg. Diesen einsamen Rekord hält er schon lange, am Sonntag aber schnappte er Michael Schumacher eine weitere Bestmarke weg. Zum neunten Mal gewann Hamilton in Silverstone, so oft wie noch kein anderer auf ein und derselben Rennstrecke.
Alles löste sich, was der ehedem siegverwöhnte Rennfahrer durchgemacht hat, seit ihm Ende 2021 im Finale gegen Max Verstappen der achte Titel durch eine umstrittene Funktionärsentscheidung genommen wurde. Erst dachte Hamilton ans Aufhören, dann wollte er Revanche. Doch plötzlich war Mercedes technisch weg von der Spitze, ein Champion in der fortgesetzten Sinnkrise. „So oft habe ich gedacht, dass es nicht reicht, dass ich nicht gut genug bin. Dass ich nie mehr gewinnen werde“, sagte Hamilton. Erst jetzt, noch vollgepumpt mit Adrenalin aus dem Halbzeit-Grand-Prix, konnte er zugeben, wie gewaltig diese Zweifel gewesen sind: „Ich habe mir Sorgen um meine mentale Gesundheit gemacht.“

Dass ausgerechnet Max Verstappen, der ein ebenso herausragendes Rennen gefahren war, als Zweiter Zeuge von Hamiltons Krönung wurde, ist eine weitere Pointe des Schicksals. „Ich dachte, dass ich schnell über die größte Enttäuschung in meinem Leben hinweggekommen wäre“, sagte Hamilton: „Aber tief im Inneren habe ich geahnt, dass es nicht so war. Es braucht Zeit, bis so etwas heilt. Tag für Tag habe ich um meinen inneren Frieden gerungen.“ Ein solcher Kampf liegt hinter Hamilton, er musste sich erst wieder mit sich selbst anfreunden. Vater Anthony, der seinen Sohn nach dem Sprinter Carl Lewis getauft hatte, erklärte: „Das war ganz wichtig für Lewis, er will sich selbst, sein Team und das Publikum nie enttäuschen. Einfach wunderbar.“
Sebastian Vettel erweist Hamilton mit nur vier Buchstaben die Ehre
An diesem Sonntag konnte der Mann mit der „44“ als Startnummer und Markenzeichen zeigen, was für ein Instinktfahrer er ist, andere Piloten hätten dieses Rennen vermutlich verloren. Die Altersfrage, wer würde sie bei dieser Souveränität noch zu stellen wagen? „Es ist wie ein Märchen“, bescheinigte auch Mercedes-Teamchef Toto Wolff nach diesem regnerischen Nachmittag. Wiedergutmachung, Genugtuung auch für das ganze Team. Zwei Siege hintereinander nach der dritten Saison, die verkorkst angefangen hatte. George Russells erster Platz in Spielberg war ein Abstauber, aber der Triumph beim Rennen vor den Toren der Rennfabrik war nach Wolffs Worten „ein ehrlicher“. Der Österreicher feierte die „Resilienz“ seiner Mannschaft. Und die seines alten Mannschaftskapitäns.
Lewis Hamilton wurde am Ende des Jubelnachmittags gefragt, ob bittersüße Gefühle zurückblieben, wo er doch das Team verlasse. Mit wieder gefestigter Stimme verneinte er: „Ohne diesen Sieg hätte ich sie gehabt. Aber mein Plan ist immer gewesen, mich auf einem Hoch zu verabschieden.“ Der Erfolg dürfte ihm auch neue Kraft geben, um an sein nächstes großes Unterfangen zu glauben, in Zukunft mit Ferrari doch noch den achten Titel einfahren zu können. Aus dem Nichts tauchte auf Social Media ein Post auf, der mit vier Buchstaben auskommt: „GOAT“, Greatest of all time – Größter aller Zeiten. Gepostet von niemand anderem als seinem alten Kumpel und Rivalen Sebastian Vettel. Einem, der genau weiß, wovon er schreibt, über das, was Rennfahrer in- und außerhalb des Cockpits manchmal durchmachen.