Die Schuldfrage also. Es hätte keinen besseren Ausgang geben können für den Großen Preis von Österreich, um die Formel 1 mitten im Taumel wieder richtig interessant zu machen. Technisch ist es ja schon lange spannend, seit Red Bull Racing seinen Rennwagen nicht mehr so perfekt hinbekommt wie gewohnt und McLaren zum Höhenflug angesetzt hat.
Die Sinnlichkeit von Reifenmischungen und Flügeleinstellungen ist allerdings begrenzt. Doch spätestens seit Runde 64 in Spielberg steht weit mehr auf dem Spiel als die Reputation der beteiligten Ingenieure: Max Verstappen und Lando Norris nehmen ihren Crash ziemlich persönlich. Eine Freundschaft steht auf dem Spiel, verbunden mit der alten, immer jungen Frage: Können Rivalen in einer derart zugespitzten Sportart überhaupt echte Freunde sein? Sofort denkt man an Lewis Hamilton und Nico Rosberg, die Freunde, die zu erbitterten Rivalen wurden.
Formel 1 in Monaco:Bald ohne Glamour-Grand-Prix?
Die Strecke in Monaco ist eine der prestigeträchtigsten der Formel 1. Doch auch weil das Überholen in den engen Gassen der Stadt so schwer ist, steht die Zukunft des traditionsreichen Rennens auf dem Spiel.
Die juristische Klärung nach dem rundenlangen Gegeneinander erfolgte überraschend schnell. Norris hatte für das mehrfache Verlassen der Rennstrecke schon fünf Strafsekunden kassiert, was seinen übertriebenen Drang in der entscheidenden Szene erklärt. Verstappen bekam für sein Verhalten in der Bremszone während des fraglichen Vorfalls zehn Sekunden aufgebrummt, eine eher kümmerliche Strafe, weil der Niederländer auf frischen Reifen noch Platz fünf belegte, mit dem er seine WM-Führung auf Norris auf 81 Punkte ausdehnte. Der Brite hatte seinen komplett lädierten Rennwagen an der Box abgestellt und war punktlos geblieben.
Lando Norris klagt: „Max hat Dinge getan, die nicht erlaubt sind.“
Norris, der ohnehin zarter besaitet wirkt als sein Kumpel Verstappen, war sichtlich zum Heulen zumute, sicher auch aus Wut: „Wenn ich nicht mehr so angreifen kann, wie ich es getan habe, dann wird es weiter Kollisionen geben. Es gibt Regeln, und Max hat Dinge getan, die nicht erlaubt sind.“ Die sportliche Auseinandersetzung ist das eine, die menschliche Komponente das andere: „Ich bin einfach enttäuscht. Ich hatte mich auf das Duell gefreut und wusste auch, dass es sich am Limit bewegen würde. Aber ich habe mehr von Max erwartet. Es ist für mich schwer zu verkraften, dass ich fair um den Sieg kämpfen wollte und er nicht.“ Norris bilanzierte: „Wenn er sagt, dass er nichts falsch gemacht hat, dann verliere ich den Respekt vor ihm.“
Der Weltmeister, gestählt in vielen hitzigen Duellen, die meist auch persönlich wurden, gab sich weit gelassener: „Es ist schade, dass es so passiert ist. Wir waren immer am Limit, und hatten es manchmal auch nicht mehr unter Kontrolle.“ Ein unerlaubtes Bremsmanöver seinerseits hatte er nicht erkannt, die Strafe hielt er für „zu hart“. Natürlich, so versprach er noch in Spielberg, werde er mit Norris über die Sache reden: „Aber es ist besser, wenn sich die Dinge abkühlen. Wir sind noch nie auf diese Art gegeneinander gefahren, und wir werden einen Weg finden, wie wir weitermachen können.“
Schon am Wochenende in Silverstone wird sich weisen, wie gut das mentale Navigationssystem der beiden Fahrer funktioniert. Verstappen hat ja durchaus recht wenn er sagt, dass sich die Aggressivität seines von hinten drängelnden Gegenspielers ebenfalls an der Grenze bewegte – getrieben auch davon, dass Norris unbedingt vorbeimusste, um die fünf Strafsekunden wieder herauszufahren. „Es ist nicht bloß so, dass Lando sauer ist – ich bin es auch“, sagte Verstappen.
Die Spur während des Bremsens zu wechseln, das ist in der Formel 1 kein Kavaliersdelikt mehr
Mehr als den Crash selbst ärgern Verstappen die ungewohnten Fehler, die sein Red-Bull-Team bei der Strategie der Reifenfrage und den Boxenstopps gemacht hatte, erst so konnte es überhaupt zu dem Duell kommen. Der drohende Verlust der generellen Überlegenheit spielt sicher auch mit, dass sich der Titelverteidiger stärker unter Druck gesetzt fühlt und mit seiner bekannten Kompromisslosigkeit zu kontern versucht – vielleicht sogar noch einen Tick härter als sonst. Die fortgesetzten Querelen innerhalb seines Rennstalls sind der Gelassenheit auch nicht gerade förderlich.
Die Spur während des Bremsens zu wechseln, das ist in der Formel 1 kein Kavaliersdelikt mehr. Es gilt als schmutziger, weil höchst gefährlicher Trick. In seiner wilden Aufstiegsphase in der Königsklasse hatte sich der damalige Kronprinz Verstappen gern auf diese unberechenbare Art Respekt verschafft, ehe er lernen musste, dass eine Grand-Prix-Piste keine Kartbahn ist. McLaren-Teamchef Andrea Stella geißelt das Verhalten Verstappens als höchst unsportlich und sieht diese Art Störtaktik des Titelverteidigers im Rennjahr 2021 begründet, als er mehrfach heftig mit Lewis Hamilton aneinandergeraten und dafür nicht bestraft worden war: „Wenn solche Probleme nicht geklärt werden, dann kommen sie irgendwann wieder zurück.“ Den Italiener störte am meisten, dass es keine sofortige Entschuldigung vonseiten des Verursachers gab: „Alle haben großen Respekt vor den Leistungen von Max und Red Bull – aber so etwas beschädigt ihre Reputation.“
Andererseits machen unberechenbare Aktionen den Reiz des Motorsports aus, selbst wenn sich die Beteiligten oft moralisch echauffieren. Den 102 000 Zuschauern in Spielberg war der Nachmittag gerettet, aus einer Kaffeefahrt war ein Zweikampf am Limit geworden, wie ihn die Formel 1 schon lange nicht mehr erlebt hat. Wer hätte zu Saisonbeginn überhaupt gedacht, dass es überhaupt zu einem echten Duell um die Spitze auf der Rennstrecke kommen würde? Das ist die eigentliche Überraschung kurz vor der WM-Halbzeit.