Süddeutsche Zeitung

Formel 1:Vettels Systemkritik wird vom Hohn verschluckt

Der Ferrari-Pilot wütet in Kanada wie ein Vierjähriger - und verhindert damit eine mögliche Debatte. Denn was Vettel über die Formel 1 zu sagen hat, ist tatsächlich spannend.

Kommentar von Philipp Schneider

Zum Glück ist Nico Rosberg kein Rennfahrer mehr. Sonst würde er kaum die Zeit finden, um jene kleinen Filmchen zu produzieren, die er nach den Rennen im Internet hochlädt, in denen er seinen Zuschauern die komplizierte Formel-1-Welt erklärt. In der jüngsten Ausgabe sitzt der einmalige Weltmeister in einem Ledersessel, den er vor ein Regal mit ein paar Pokalen geschoben hat. Er lehnt also gemütlich in seinem Pokalzimmer, blickt in eine Webcam und kündigt an: "a big one". Eine große Sendung sozusagen. Und warum auch nicht? Groß war dieser Grand Prix in Kanada, um den es ja nun auch in Rosbergs Podcast unweigerlich gehen musste, tatsächlich gewesen. Groß war jedenfalls die Debatte über Verhalten oder Fehlverhalten von Sebastian Vettel. Und die besten Pointen setzt ein großer Podcastmoderator selbstredend, wenn er riesige Sachverhalte winzig, winzig klein macht. Also sagt Rosberg über den viermaligen Weltmeister Vettel: "Er denkt immer, dass er richtig liegt und will immer den anderen die Schuld geben."

Ist es so einfach?

Drei Dimensionen hat der Vorfall in Montréal. Die erste betrifft das sportliche Delikt: Vettel führte am Sonntag das Feld an, als er in der 48. Runde in den Kurven drei und vier, wie es so schön heißt, sein Heck verlor. Er bretterte mit seinem Ferrari über die Wiese und fuhr so bei seiner Rückkehr direkt vor den Frontflügel von Lewis Hamiltons Mercedes, der bremsen musste, um einen Kontakt zu vermeiden. Bei diesem Manöver, das urteilten die Rennkommissare zehn Runden später, sei Vettel auf unsichere Weise auf die Strecke zurückgekehrt. Sie verurteilten ihn zu einer Fünf-Sekunden-Strafe - diese Bestrafung kostete Vettel den Sieg.

Vettel wütet wie ein Vierjähriger

Dass die Kommissare so urteilen durften, bestreitet kaum jemand. Aber mussten sie? Angeführt wird hier und da, dass diese Sanktionierung, da sie ja über den Rennsieger entschied, nicht gerade von Feingefühl und Weitsichtigkeit zeugte. Zumal Vettel schon vor dem siebten Sieg eines Mercedes-Piloten im siebten Rennen keine realistischen Chancen mehr auf die Weltmeisterschaft besaß. Dass sie auch anders hätten entscheiden können, belegt eine Szene aus dem Rennen in Monte Carlo 2016, als Hamilton straffrei ausging, nachdem er ebenfalls abgekürzt hatte und auf überaus unsichere Weise vor dem Wagen von Daniel Ricciardo auftauchte. Ein normaler Zwischenfall sei dies gewesen, lautete damals das Urteil. Und so argumentiert nun auch die Scuderia, die Einspruch eingelegt hat und dabei wohl ins Feld führt, dass Vettel nirgendwo sonst hätte hinfahren können und sich mit einem Bremsmanöver auf dem Rasen in Gefahr gebracht hätte. Wie auch immer das finale Urteil ausfällt: Es wird nicht alle zufriedenstellen. Rennsportpuristen und Formel-1-liebende Familienväter mit Großraumvans trennen Welten.

Nur weil Vettel nicht nur sein Heck, sondern auch seinen Kopf verlor, hat der Fall eine zweite Dimension. Er wütete über Funk gegen die Kommissare. Er stellte seinen Dienstwagen nicht auf den für die drei schnellsten Flitzer vorgesehenen Platz im Parc fermé. Er schwänzte die Pressekonferenz für die Fans auf der Strecke. Und er tauschte allen Ernstes noch die Schilder für die Plätze "1" und "2" aus. Vor der Position, die für seinen Ferrari vorgesehen war, stand nun also jene symbolische Eins, von der Vettel schon im fünften Jahr, seit seinem Wechsel zu Ferrari, träumt. Dass er deshalb wirkte wie ein Vierjähriger, der sich auf der Geburtstagsfeier seines Kumpels die Torte vor die Nase zieht, um endlich mal wieder selbst ein bisschen Geburtstag zu haben, das machte den Auftritt so unerträglich.

Schade war dies, weil Vettel im Nachgang seines Bühnenklamauks zu einer spannenden Systemkritik ansetzte, deren Widerhall vom globalen Hohn über sein Verhalten akustisch verschluckt wurde. Er sei ein Purist, er liebe es zurückzugehen und auf die alten Zeiten zu schauen, sagte Vettel. "Auf die alten Wagen, die alten Fahrer." Vettel verehrt seine Vorgänger. Die Männer auf den Schwarzweißbildern in ihren öfter mal brennenden Benzinkisten, für die das gefährliche Zurückkehren auf die Strecke noch das geringste Problem war. Das ist die dritte Dimension des Falls: Vettel dreht nicht nur Rennrunden in der Gegenwart, er fährt sie vor dem Hintergrund der Geschichte seines Sports. Vettel will mehr Zylinder, lautere Motoren, er wünscht sich sogar den Gangknüppel zurück. Es ist eines seiner Lebensthemen, sich dafür einzusetzen, dass der Fahrer wieder im Rampenlicht stehen soll - nicht die Technik und die Regeln. Würde die Formel 1 vereinfacht werden, hat er der SZ gesagt, dann kehre auch "das Heldentum" zurück in die Formel 1.

Das Heldentum kehrt nicht zurück, wenn sich ein Weltmeister kindisch verhält. Am Sonntag gab es allerdings gar keinen Helden, nur einen Rennsieger nach Rechenaufgabe. Da hat Vettel Recht.

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Quelle:
SZ vom 12.06.2019/tbr
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