Süddeutsche Zeitung

Formel 1 in Kanada:Vettels große Motzerei

  • Sebastian Vettel steigert sich nach einer Fünf-Sekunden-Strafe, die ihn den Sieg kostet, in epische Tiraden und kindische Proteste.
  • Sein Gesamtauftritt bringt der Formel 1 aber Hoffnung auf mehr Spannung.
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Von Elmar Brümmer, Montreal

Die restlichen 12 Umrundungen der Ile de Notre-Dame musste Sebastian Vettel im Wissen vornehmen, dass er zwar führte, aber den Sieg sogleich verlieren würde. Diese 12 Runden wirkten wie eine Zentrifuge auf den Gemütszustand des Ferrari-Piloten. Noch im Rennen trieb ihn der Ärger in heftige verbale Attacken, und auch im Ziel blieb der Zorn im höchsten Drehzahlbereich und gipfelte in merkwürdigen, von ihm ungekannten Aktionen.

Fünf Strafsekunden waren Vettel aufgebrummt worden, sie kosteten den Ferrari-Piloten den ersten Saisonerfolg und brachten Gegenspieler Lewis Hamilton den fünften Triumph. Deshalb wollte Vettel gar nicht mehr aufhören, sich über die kleinliche Strafe zu echauffieren, steigerte sich immer mehr in seine Sichtweise, wonach die Formel 1 zunehmend verweichlicht und überkorrekt sei - weshalb er sich beharrlich zum wahren Sieger erklärte. Wutmeister ist er schon, aber das mit dem Weltmeister wird immer schwieriger.

Die Kontroverse, deren Ursache in der 48. Runde des siebten WM-Laufes lag, dürfte sich ungeachtet eines binnen vier Tagen möglichen Ferrari-Protestes noch auf die restliche Saison auswirken. Die Chancen der Scuderia, die Silberpfeile noch abzufangen, sind formal weiter gesunken. Allerdings gelang es Vettel mit seinem Protestgeheul, endlich wieder im Mittelpunkt zu stehen - was bislang ein Privileg von Gegenspieler Hamilton war. Und für einen Moment brachte er wieder Spannung in die Formel 1, auch wenn sich die Mercedes-Dominanz trotz eines am Vormittag entdeckten Hydraulik-Lecks an Hamiltons Auto wieder nicht brechen ließ.

Die Rennkommissare ermitteln sofort

Vettel hatte mit einer grandiosen Qualifikationsrunde die erste Pole-Position seit Juli vergangenen Jahres geholt - und von dort aus das Rennen kontrolliert. Doch nach den Boxenstopps holte Rivale Hamilton auf, war bis auf eine halbe Sekunde an Vettel herangekommen, und somit unmittelbar vor einem Überholversuch. Vor Kurve drei geriet der bedrängte Vettel dann von der Strecke ab, rutschte über den Randstreifen, versuchte das Heck mit wilden Lenkbewegungen unter Kontrolle zu bekommen, kürzte Kurve vier ab und kreuzte den Asphalt quer über die Ideallinie, auf der Hamilton angeprescht kam. Der Brite musste vom Gas, um nicht in der Mauer oder im Gegner zu landen.

Die Rennkommissare unter der Führung des Passauers Gerd Ennser ermittelten sofort: Sie brauchten nur bis Runde 58, dann verordneten sie Vettel eine Fünf-Sekunden-Strafe. Denn gleich mehrere Regeln verbieten das Abdrängen eines Gegners und die gefährliche Rückkehr auf die Strecke. Von der Vorteilsnahme mal ganz abgesehen. Absicht war es wohl nicht, aber das ist es beim Handspiel im Fußball häufig auch nicht und wird trotzdem bestraft.

Aus einem begeisternden Grand Prix, wurde ein düsteres Hörspiel, da konnte Vettels Renningenieur noch so sehr sein "Bleib konzentriert!" flehen. Stufenlos schaltete Vettel die Motzerei höher: "Sie wollen uns den Sieg stehlen!" Auch Teamchef Mattia Binotto scheiterte mit seinen Beschwichtigungsversuchen. "Nein, ich bleibe nicht ruhig!", entfuhr es Vettel, "ich bin wütend, und ich habe das Recht dazu. Mir doch egal, was die Leute sagen." Hamilton blieb ihm an den Fersen, unter anderen Umständen hätte er wohl noch versucht zu überholen, aber das war ihm eingedenk Vettels Gemütszustand wohl zu gefährlich. Durch den geschenkten, aber nicht unverdienten Sieg führt er nun mit 162 Punkten, Vettel liegt bei 100 Zählern. Die vorerst beste Chance, den Rivalen zu schlagen - vertan. "Nein, nein, nein - nicht auf diese Art", schimpfte er, "wo hätte ich denn hin sollen!? Das ist nicht fair. Ich verstehe die Welt nicht mehr." In Sekunden hatte der Computer aus dem Sieger einen Verlierer gemacht, doch neutral kann man es auch so sehen: Wäre Vettel nicht bestraft worden, hätte er dem Kontrahenten das Rennen zerstört und wäre dafür am Ende noch belohnt worden.

Auch zu Fuß driftete der Ferrari-Pilot dann ab. Er stellte sein Auto außerhalb des Parc fermé ab, erschien nicht zu den Siegerinterviews auf der Piste, stattdessen suchte er nach den Rennkommissaren, fand diese aber zum Glück wohl nicht. Ausgerechnet durch die Mercedes-Garage stürmte er schließlich zurück in die Boxengasse. Dort stand Hamiltons Siegerpfeil vor dem Schild mit der großen Nummer eins, rechts Kollege Charles Leclerc auf Position drei. Vettel nahm den Aufsteller mit der Zwei, die vor seinem leer gebliebenen Parkplatz stand und tauschte den Aufsteller mit der Eins vor dem Mercedes aus, als könne er so seinen Platz wiedergutmachen. Die Ferrari-Mechaniker applaudieren zu dem Schildbürgerstreich.

Oben, auf dem Siegerpodium, legte dann Hamilton den Arm um die Hüfte des Kontrahenten und zog ihn kurz auf die oberste Stufe. Später würde er sagen, dass er immer gewinnen will, aber lieber nicht auf diese Art und Weise. Die Fans dagegen buhten Hamilton beim Interview aus, Vettel ging dazwischen und forderte sie auf, das zu lassen: "Buht die aus, die so entschieden haben. Lewis kann nichts dafür." Im Prinzip schon, denn er hatte Vettel ja in den Fehler getrieben. Womit der Ferrari-Pilot wieder mit dem entscheidenden sportlichen Vorwurf konfrontiert wird, unter Druck zu oft zu patzen. Letztes Jahr in Hockenheim war das aus der Führungsposition heraus auch passiert, das war ein Wendepunkt in der Weltmeisterschaft. Ist Montreal wieder so einer?

Auch nachdem sich die Wogen etwas geglättet hatten, diskutierte Vettel weiter. Auf die Frage, ob er sich betrogen fühle, antwortet er mit einem knappen "Ja". Bis zur Hälfte habe ihm der Grand Prix Spaß bereitet, sei das gewesen, warum er Rennen fährt. Doch vom Hochgefühl blieb nur Verbitterung: "Ich mag nicht, wie es heute läuft. Wir klingen alle wie Anwälte. Das macht den Sport nicht interessanter. Das ist nicht mehr der Sport, in den ich mich verliebt habe. Dabei geht es mir um das größere Bild, nicht um die Strafe heute." Ferrari-Prinzipal Binotto sprach zwar auch davon, sich als Sieger zu fühlen, erkannte aber die Realität an. Entscheidend sei, dass man positiv denke: "Darin müssen wir auch Sebastian unterstützen."

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SZ vom 11.06.2019/tbr
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