Süddeutsche Zeitung

Großer Preis der Türkei:Der über die Pfützen fliegt

Lewis Hamilton wird in Istanbul Fünfter und verliert die Führung in der Gesamtwertung an Max Verstappen. Danach stellt sich für den Weltmeister die Frage, ob er beim Reifenpoker die richtige Strategie gewählt hat. Auch Vettel verzockt sich.

Von Philipp Schneider

In den Kopfhörern von Lewis Hamilton knarzte die Stimme seines Renningenieurs Peter Bonnington: "Box, box!" - die unmissverständliche und international bekannte Chiffre für einen dringlich empfohlenen Reifenwechsel. "Warum?", knurrte Hamilton zurück. Nun, antwortete Bonnington, Spitzname Bono: "Ich denke, ein neuer Satz Allwetterreifen wäre jetzt das Mittel der Wahl." Das sah Hamilton anders. "Ich habe das Gefühl, wir sollten noch ein bisschen auf der Strecke bleiben!" Und so fuhr er noch eine ganze Weile weiter und teilte mit: "Ich rutsche hier durch die Gegend, aber es ist im Moment ganz okay!" Doch Bono blieb hartnäckig, bestellte Hamilton nun ein zur Garage von Mercedes. Acht Runden vor Schluss erhielt Hamilton neue Reifen, was ihn zurückwarf von Platz drei auf fünf. Und so brachte das Sicherheitsmanöver eine fulminante Erkenntnis: Auch Lewis Hamilton, der siebenmalige Weltmeister aus Stevenage, kann nicht über das Wasser laufen. Beziehungsweise: Er kann nicht nach einer Strafversetzung auf Startplatz elf bei verregneten Bedingungen auf nur einem Satz abgefahrener Reifen über die Pfützen fliegen bis aufs Podium.

Oder etwa doch?

Denn die Debatte zwischen Fahrer und Team, ob es Hamilton mit etwas mehr Risiko vielleicht doch noch auf das Podium geschafft hätte, sie nahm nach Rennende ja gerade erst Fahrt auf. "Esteban Ocon hat es geschafft. Also hätte es wohl klappen können", sagte Hamilton in Anspielung auf den Franzosen, der mit einem Satz Reifen Zehnter wurde. "Es hat sich gut angefühlt, auf Platz drei zu fahren. Ich habe mir gesagt: Halt das fest!" Sein Teamchef Toto Wolff wiederum dozierte recht überzeugend auf Sky, dass Hamilton sehr wohl um Platz drei hätte fahren können, wenn er so früh gehalten hätte, wie es Bonnington geplant hatte. Weil nämlich ein frischer Satz Reifen für eine Übergangszeit zunächst an Haftung verliert - ehe er eingefahren ist. Es war aber auch kompliziert.

Der vierte Verbrennungsmotor in einer Saison - Hamilton startet zehn Plätze weiter hinten

Kurz zuvor war Hamiltons Teamkollege Valtteri Bottas nach einem Start-und-Ziel-Sieg beim Großen Preis der Türkei als Erster über die Linie gerauscht - gefolgt von Max Verstappen und Sergio Perez in ihren Red Bulls. Der Niederländer übernahm damit wieder die Führung in der Gesamtwertung. Sechs Rennen vor Saisonende führt Verstappen mit sechs Punkten vor Hamilton. "Das Optimum, das wir erhoffen konnten", jubilierte Red Bulls Motorsportberater Helmut Marko. "Ein bisschen Angst hatten wir, dass Hamilton durchfährt. Aber beim Zustand seiner Reifen wäre die Gefahr eines Platzers sehr groß gewesen."

Hamilton hatte sich am Samstag gewundert, als er erfuhr, dass die von ihm gefahren schnellste Runde bei der Zeitenjagd in Istanbul nicht als die 102. Pole Position in seiner ewigen Karriere einfließen würde in die Statistik. "Was? Ich habe keine Pole? Verdammt!", rief er. Wohlwissend, dass ja der bereits vierte Verbrennungsmotor der Saison in seinen Silberpfeil gesetzt werden musste - einer mehr als erlaubt - wofür das Reglement eine Strafversetzung um zehn Plätze vorsieht. Den obligatorischen Miniaturreifen, den der Schnellste der Qualifikation als Trophäe erhält, solle er ihm doch bitteschön noch rüberreichen, frotzelte auf der Pressekonferenz am Samstag Bottas, der den besten Startplatz erbte. Und erstaunlicherweise machte sogar Verstappen den gar nicht so schlechten Witz, Hamilton könne eine "eigene Reifenfabrik gründen", so viele Gummis habe er schon überreicht bekommen für seine Qualifikationsrunden. Der Niederländer rückte wegen Hamiltons Motorenwechsels vor in Parkbucht zwei.

Als das Rennen dann gestartet wurde, rollten alle Fahrer bei Nieselwetter und 16 Grad Außentemperatur auf Allwetterreifen los. Unfallfrei bogen die ersten drei Fahrer um die erste Kurve. Dahinter aber berührten sich die Rennwagen von Fernando Alonso und Pierre Gasly. Der Franzose hielt seine Linie, der Spanier probierte es außen, drehte sich - und reihte sich elf Plätze weiter hinten wieder ein auf Position 16. "Was für ein dummer Typ, dieser Gasly", funkte Alonso. Als er daraufhin im hinteren Teil des Feldes angekommen war, hatte es Alonso sehr eilig: Ungestüm drehte er seinerseits Mick Schumacher, nachdem der am Samstag erstmals den zweiten Teil der Qualifikation erreicht hatte und von Startplatz 14 losgerollt war. Beide Unfälle wurden untersucht. Gasly erhielt eine Fünf-Sekunden-Strafe für den ersten Zwischenfall, Alonso fünf Sekunden für den zweiten. Womit die Rennkommissare, um in Alonsos Sprache zu verweilen, klar urteilten, dass Gasly und Alonso wenn schon, dann exakt gleich dumme Typen gewesen waren.

Hamilton hatte nach zwei Runden schon Vettel überholt und war Neunter - hing nun aber fest hinter Yuki Tsunoda. Erst nach acht Runden schaffte er es vorbei am Japaner. Die nächsten Verkehrshindernisse - Lance Stroll und Lando Norris - schnappte er sich weit schneller. Nach zwölf Runden war Hamilton Sechster, stilgerecht pflügte er flankierend schnellste Rennrunden in die Pfützen.

Den Beweis, dass hier Trockenreifen fehl am Platz waren, erbrachte Sebastian Vettel

Nur sehr langsam trocknete die Strecke ab. "Es ist immer noch sehr schmierig", klagte Verstappen, der Bottas an der Spitze zweitweise mehr als drei Sekunden enteilen ließ. Schmierig, aber nicht schwierig, dachte sich Hamilton. Von hinten rückte er immer näher, schnappte sich als nächstes auch Gasly und hatte nur noch vier Autos vor sich. Noch beachtlicher als die Aufholjagd des Briten geriet jene von Carlos Sainz: Als 19. war der Spanier gestartet, am Ende wurde er Achter.

Als Nächstes tauchte Hamilton formatfüllend im Rückspiegel von Verstappens Teamkollege Perez auf. Seite an Seite tanzten die Rennwagen durch die Kurven in Istanbul, am Eingang der Zielgerade wurde Perez so weit abgedrängt, dass er links neben dem Poller entlangfuhr, der die Boxeneinfahrt von der Strecke trennt. Der Mexikaner blieb vorn, es war hartes aber vorbildlich faires Rennfahren, mit dem er Hamilton entscheidend aufhielt.

Den Beweis, dass ein Wechsel auf Trockenreifen nicht angeraten war, erbrachte Sebastian Vettel als Versuchskaninchen. Als Einziger ließ er sich Slicks aufziehen, rutschte wie wild über die Strecke. "Es funktioniert nicht", funkte er, dann korrigierte er den Fehler bei einem weiteren Stopp - und wurde 18.

Verstappen hielt an der Garage für einen neuen Satz Allwetterreifen. Bottas auch. Charles Leclerc, der vorübergehend geliebäugelt hatte mit der Option, auf seinen alten Gummis die Ziellinie zu erreichen, hielt ebenfalls. Genau wie nach einiger Überzeugungsarbeit auch Hamilton, der trotz aller Warnungen aus seinem Team eigentlich den Plan gefasst hatte, weiter zu fahren. Immer weiter. Bis es irgendwann zu spät war.

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