Sieben Kurven der Formel 1:Rad abgeknickt, Hinterreifen aufgeschlitzt

Leclerc und Vettel fühlen sich nach dem Ferrari-Team-Unfall jeweils im Recht - ihr Chef ist sprachlos. Verstappen zeigt eine ungeheuer reife Leistung. Die Höhepunkte des Formel-1-Wochenendes.

Von Elmar Brümmer

1 / 7

Max Verstappen

Formula One F1 - Brazilian Grand Prix

Quelle: REUTERS

Das vorletzte Formel-1-Rennen des Jahres könnte in der Tat ein Ausblick auf eine strahlende Zukunft der Königsklasse gewesen sein: Gehörte der Frühling in dieser Saison Mercedes, gewann Ferrari im Sommer die Oberhand, dann geht der Herbst an Red Bull Racing - und den Motorenlieferanten Honda, der am Ende seines fünften Jahres in der Hybridära endlich die Leistungen bringt, die man in Salzburg und in Tokio schon lange erwartet. Sie haben Max Verstappen erst zu seiner zweiten Pole-Position und dann zu seinem dritten Saisonsieg katapultiert. Hamilton war fassungslos, wie leicht ihn der Niederländer zweimal stehen gelassen hat.

Verstappen genießt Siege über das Establishment doppelt, diesmal sogar dreifach. Denn was für eine Ironie, dass ausgerechnet Vettel und Hamilton, die ihn immer wieder als Quasi-Bruchpiloten verspottet und geächtet hatten, galt es in Interlagos zu tadeln - während der 22-Jährige bei aller Aggressivität eine ungeheuer reife Leistung zeigte. "Das war eine Genugtuung für Max", weiß auch Teamchef Christian Horner. Sein Instinkt sagt ihm, dass da was geht: "Seit einigen Rennen haben wir wieder ein Auto, mit dem wir um Siege mitfahren können."

2 / 7

Lewis Hamilton

F1 Grand Prix of Brazil

Quelle: Getty Images

Zuhause in England wird diskutiert, ob ihn die Queen jetzt schon zum Ritter schlagen solle, oder ob sie lieber abwartet, bis der Champion zum siebten Mal Weltmeister wird. Nach dem vorletzten WM-Lauf kühlt sich die Debatte vielleicht etwas ab. Dritter Platz in einem von Reifenleistung, Boxenstopps, Taktik und Pech bestimmten Rennen, in dem er kurz vor Schluss den Rookie Alexander Albon von der Piste dreht, das ist kein wirklicher Glanztag. Hamilton ahnt schon vor dem Gang zum Podium, dass er noch zurückgestuft werden wird, er spricht eine dicke Entschuldigung Richtung Albon aus: "Das tut mir echt leid für ihn. Ich habe eine Lücke gesehen, die nicht da war. Das war mein Fehler."

Der am Ende Siebtplatzierte betont, dass er Kollisionen vermeide, wo es nur gehe - was die Statistik auch belegt. Es war einfach nicht sein Tag, nur Kollege Valtteri Bottas erwischte es mit einem der seltenen Motorschäden bei Mercedes noch schlimmer. Hamilton denkt aber längst weiter, über 2020 hinaus, weshalb die Vertragsverhandlungen des 34-Jährigen mit Mercedes jetzt beginnen. Im Gespräch ist sogar eine weitergehende Rolle bei Daimler. Aber zuerst geht es ums versilbern. Hamiltons Marktwert wird inzwischen auf etwa 50 Millionen Euro pro Jahr taxiert.

3 / 7

Sebastian Vettel

Unfall Ferrari Vettel Leclerc vom 17.11.2019

Quelle: Screenshot/formula1.com

Nach dem Crash kommt die Krise. Aber vorher das Unfallprotokoll: Im Duell mit Charles Leclerc um Platz vier sucht der Heppenheimer, der sein 100. Rennen für die Scuderia Ferrari fährt, fünf Runden vor Schluss den entscheidenden Konter. Der Monegasse hatte ihn gerade überholt. Vettel ist schon wieder gleichauf, vielleicht sogar leicht vorn, da naht die nächste Kurve. Der Teamkollege lässt ihm keinen Platz zum Einlenken, der Heppenheimer zieht trotzdem einen Tick nach links. Die kurze Berührung reicht. Bei Leclerc knickt rechts vorne das Rad ab, das schlitzt Vettel den linken Hinterreifen auf, beide landen im Aus.

Dort steht der Deutsche am Zaun, neben sich einen Traktor, vor sich den Gang zurück an die Box. Sogar auf Deutsch ("Bockmist!") hat er über Boxenfunk geflucht, das ist ein Indikator für seinen Frust. Er ahnt wohl, dass Leclerc in Italien mehr Freunde besitzt. "Ich dachte, ich wäre vorbei, dann sind wir zusammengerumpelt", versucht er, die Szene einigermaßen gelassen vor den Kameras zu erklären. Leclerc hatte zuvor gesagt: "So was passiert." Vettel präzisiert: "Natürlich kann so etwas passieren, sollte uns aber nicht passieren." Das Wort, das er für die Bilanz wählt, lautet: "Bitter." Er selbst wirkt dabei: verbittert.

4 / 7

Mattia Binotto

F1 Grand Prix of USA - Final Practice

Quelle: AFP

Er möchte einfach nicht drüber sprechen. Vielleicht jetzt nicht, vielleicht überhaupt nicht mehr. Zwei Rennfahrer, die sich auf der Strecken gegenseitig abschießen. Die beide finden, dass sie im Recht sind. Die sich beide bei ihrem Vorgesetzten entschuldigen. Da sagt der Teamchef lieber das, was man in der Formel 1 immer sagt, wenn man Zeit gewinnen muss: "Wir brauchen Zeit, die Daten zu analysieren." Vielleicht wäre dem Italiener auch mehr mit einer Psychoanalyse gedient, nach der "leichten Berührung mit großen Konsequenzen." Die Rennkommissare, die solche Crashs untersuchen, auch wenn es zwischen zwei Teamkollegen geschieht und beide ausscheiden, befanden: kein Grund zur Strafe. Aber auch: "Beide hätten diese Situation vermeiden können."

Unvermeidlich, dass sich Binotto jetzt fragt, wie er das Verhältnis der beiden ewigen Streithähne Vettel und Leclerc zumindest so neutralisiert, dass es 2020 noch zum gemeinsamen Wohl und endlich wieder zu einem Titel für den Traditionsrennstall reicht. "Wir müssen uns jetzt natürlich hinsetzen und festlegen, wo die Grenzen sind", sagt Binotto. Aber der in der Schweiz geborene Italiener weiß auch, wie brüchig dieser Frieden trotzdem sein kann. Bislang hat es nur Mercedes-Chef Toto Wolff geschafft, zwei Unverbesserliche zur Disziplin im Umgang miteinander zu zwingen - allerdings auch erst, nachdem Lewis Hamilton und Nico Rosberg sich gegenseitig von der Piste geräumt hatten.

5 / 7

Carlos Sainz junior

F1 Grand Prix of Brazil

Quelle: Getty Images

Die Fünf-Sekunden-Strafe für Lewis Hamilton wird zur großen Genugtuung für Carlos Sainz junior. Der Sohn des Rallye-Weltmeisters steht am Ende seines fünften Formel-1-Jahres und in seinem 101. Grand Prix zum allerersten Mal auf dem Podium. Den 25-Jährigen wird es ärgern, dass er den Erfolg nicht auf dem Podest zelebrieren durfte. Grund genug hätte er dafür. Dabei geht es nicht darum, dass überhaupt zum ersten Mal seit März 2014 wieder ein Fahrer des Dinosaurier-Teams McLaren unter die ersten Drei fahren konnte, oder dass der Rennstall unter dem deutschen Teamchef Andreas Seidl seinen vierten Rang in der Konstrukteurs-WM gesichert hat.

Sondern darum, dass Sainz wegen eines Zündungsproblems beim Warmlaufen für die erste Qualifikationsrunde in Sao Paulo ohne Zeit und nur mit einer Sondergenehmigung starten durfte: von ganz hinten, nachdem der Antriebsstrang am orangen Auto getauscht werden musste. Mit einer cleveren Boxenstrategie konnte er sich unaufhörlich nach vorn schieben. Eine verrückte (Erfolgs-) Geschichte in einem mehr als verrückten Rennen.

6 / 7

Pierre Gasly

F1 Grand Prix of Brazil

Quelle: Getty Images

Die Frage, wie der einzige Franzose in der Formel 1 heißt (Romain Grosjean hat einen Schweizer Pass, aber eine französische Lizenz), wäre für die unteren Ränge bei "Wer wird Millionär" ganz gut geeignet. Auf Pierre Gasly muss man erst kommen. 46 Rennen ist der 23-Jährige bisher in der Königsklasse gefahren, zweimal war er Vierter. Aufsehen erregt hat er, zumindest in Fachkreisen, nur durch seine Strafversetzung im Sommer: Zurück in den Red-Bull-Nachwuchsrennstall Toro Rosso, gescheitert als Nebenmann von Max Verstappen. Junge Rennfahrer können, siehe den Russen Daniil Kwjat, an solchen Strafexpeditionen zerbrechen.

Aber Gasly hat sein sonniges Gemüt behalten. Der erste Gratulant nach dem zweiten Platz, den er um Haaresbreite gegen Weltmeister Lewis Hamilton über die Ziellinie retten konnte, war Sieger Verstappen. Zu diesem Zeitpunkt muss Gasly schon heiser gewesen sein, denn alles, was von ihm aus dem Cockpit zu hören gewesen war, war ein langgezogenes "Woooooooooohooooooohooooo!". Die Befreiung, nach allem, was er durchgemacht hatte. Danach lächelte er einfach nur, zu richtigen Sätzen war er ohnehin nicht fähig. Außer, immer wieder zu sagen, dass er gerade den größten Tag seines Lebens erlebe. Merksatz vom Großen Preis aus Brasilien: der wahre Treibstoff in der Formel 1 sind wohl doch die Emotionen.

7 / 7

Interlagos

-

Quelle: AFP

Den 50. Großen Preis von Brasilien im kommenden Jahr wird Sao Paulo in jedem Fall noch erleben, doch danach ist die Formel-1-Zukunft im Autodromo Carlos Pace ungeklärt. Denn die Finanzmetropole hat einen großen, den üblichen, Konkurrenten - und der heißt Rio de Janeiro. Die ehemalige Olympia-Stadt will für über 200 Millionen Euro einen neuen Kurs bauen. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro macht sich stark für den Umzug, aus populistischen Gründen. Aber dort gibt es momentan noch nicht einmal eine Rennstrecke.

Die Königsklasse ist in dem Land, das acht Weltmeistertitel feiern konnte, generell in Gefahr. Es gibt keinen einheimischen Fahrer mit Chancen, auch der Fernsehsender Globo bangt um die Fortsetzung seines Lieblingsprogramms. Deshalb sind Bilder wie aus dem Vorprogramm vom Sonntag Gold wert: Bruno Senna drehte im McLaren MP4-4-Honda seines Onkels Ayrton, der vor 25 Jahren ums Leben kam, seine Runden. Die Fans hielten "Dankeschön Senna"-Schals hoch. Dabei ist dieses Auto nie in Interlagos gefahren, denn 1988 hatte das Rennen auf der alten Piste in Rio stattgefunden.

© SZ.de/ebc/lys
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: