Süddeutsche Zeitung

Formel 1 in Singapur:Vettel fährt wie ein viermaliger Weltmeister

Lesezeit: 4 min

Von Philipp Schneider, Singapur/München

"What the hell?" Was zur Hölle?

Ein in seiner Botschaft recht eindeutiger Funkspruch knarzte in der Nacht von Singapur. Charles Leclerc hatte ihn soeben abgesetzt, adressiert war er zunächst mal an den Kommandostand der Scuderia Ferrari, gerichtet war er vor allem an seinen Chef Mattia Binotto. What the hell? Drei Worte, elf Buchstaben, die in Wahrheit adressiert waren an die Öffentlichkeit, an die Tifosi an der Strecke und zuhause vor den TV-Geräten. Der wütende Rennfahrer wandte sich an alle Anhänger des stolzen Rennstalls aus Maranello, die er, Charles Leclerc, mit seinen Siegen in Spa und Monza nach einem Jahr des Darbens doch gerade erst wieder daran erinnert hatte, wie schön es sich anfühlt, wenn ein rotgekleideter Fahrer mal wieder ein Rennen gewinnt. Leclerc wollte sagen: Warum zur Hölle habt ihr Sebastian Vettel plötzlich vor meine Nase orchestriert?

Das war die entscheidende Frage in diesem ereignisarmen Rennen in Singapur, das kurz zuvor tatsächlich von einem einzigen Boxenstopp der Scuderia entschieden worden war. Von diesem profitierte ausschließlich: Sebastian Vettel. In der 20. Runde hatte Ferrari zunächst den an Position drei rollenden Vettel zum Reifenwechsel gerufen, eine Runde später erst Leclerc, der das Feld in diesem Moment anführte. Den Vorteil dieser einen Umdrehung auf frischen Reifen nutzte Vettel, um den Vorsprung seines Teamkollegen aufzuschnupfen und sich vorbeizuschieben.

Eine Art Masterplan, um Vettel endlich mal wieder lachen zu sehen?

Die Frage war nun: Hatte sich Ferrari verrechnet? Hatten die Italiener diese Strategie, "Undercut" genannt, für Vettel erdacht, damit sich dieser nur an Hamilton vorbeischieben sollte - nicht aber an Leclerc? Oder war diese Strategie in Wahrheit eine versteckte Teamorder gewesen? Eine Art Masterplan, um Vettel endlich mal wieder lachen zu sehen unter den Feuerwerkraketen am Hafen von Singapur? Weil sich auch Binotto einen Rennsieg von ihm gewünscht hatte - seinen ersten seit dem in Spa-Francorchamps vor 392 Tagen? Sollte es ausgleichende Gerechtigkeit dafür sein, dass sich Leclerc zuletzt in Monza über Absprachen mit Vettel hinweggesetzt hatte? "Ich freue mich sehr für Seb", sagte Binotto. "Es gab so viele Rennen, in denen er gut gefahren ist und es trotzdem nicht gereicht hat. Wir haben bei der Rennstrategie die richtigen Entscheidungen getroffen und beide Autos nach vorne gebracht." Gut, das Auto von Vettel halt ein bisschen weiter nach vorne noch.

40 Runden wurden nach dieser Szene noch gefahren, die den dritten Ferrari-Sieg in Serie zur Folge hatte. Einen Doppelsieg sogar, weil Leclerc noch vor Max Verstappen und dem viertplatzierten Hamilton ins Ziel rollte. Auf Vettels Stopp folgten noch drei Safety-Car-Phasen. 14 Runden vor Schluss erbat Leclerc bei seinem Team die Erlaubnis, seinen Motor auf maximaler Leistungsstufe zu fahren, um Vettel zu attackieren. Aber Vettel fuhr am Sonntag wie der viermalige Weltmeister, der er ist. Fehlerfrei, überlegt. Er legte noch die schnellste Rennrunde vor und rettete sich ins Ziel.

Er sei ein bisschen verschwitzt, sagte Vettel nach dem Rennen. "Großen Dank an das Team." Er habe seinen Boxenstopp sogar "für etwas früh" gehalten. Dass er sich vor Leclerc wieder einsortieren konnte, das habe ihn selbst überrascht.

"Charles, das war eines der besten Dinge, die wir tun konnten. Kopf runter, das Rennen ist lang", hatte Ferrari dem wütenden Leclerc noch im Rennen auf die Ohren gefunkt. Der antwortete: "Mein Kopf ist unten, und er wird bis zum Ende des Rennens unten sein." Aber nur bis dann. Danach hob er den Kopf und klagte bitter: "Es ist schwierig, einen Sieg auf diese Art zu verlieren." Er fühlte sich seines Erfolges beraubt.

Auf dem Marina Bay Street Circuit wird das physisch anspruchsvollste Rennen des Jahres gefahren. In der schwülen Hitze verlieren die Rennfahrer bis zu drei Kilogramm Gewicht, weil sie so stark transpirieren. Es gibt kaum Geraden, stattdessen nur ein Gewirr von Kurven. Wer die Kontrolle verliert, touchiert die Mauer.

Die diesjährige Startaufstellung versprach zusätzlich Spektakel. Denn hinter Leclerc, Hamilton und Vettel parkte Verstappen mit seinem Red Bull. "Überholen ist hier nicht einfach, der Start wird der schwierigste Teil des Rennens für mich", hatte Leclerc geahnt. Dann gingen die Ampeln aus. Und es passierte: nicht viel.

Leclerc kam gut weg, Hamilton ordentlich, etwas langsamer als Vettel. Der attackierte den Engländer in den ersten Runden, versuchte, sich vorbeizuschieben. Aber das ist nicht einfach in Singapur, die Strecke bietet kaum Platz für Überholmanöver. So rollten die ersten fünf Fahrer nach den ersten Runden auf unveränderten Positionen. Und dann nahm Leclerc an der Spitze das Tempo raus.

Auf einem Kurs, auf dem Überholen sowieso kaum möglich ist und es vor allem gilt, die Reifen zu schonen, da treibt den mitdenkenden Rennfahrer an der Spitze nichts zur unnötigen Hast. Ein Bummelzug schlängelte sich durch die Nacht von Singapur. Wer zu viel Gas gab, den drohten die Reifen schneller im Stich zu lassen.

Mercedes verzockte sich völlig

Hamilton hatte bald keine Lust mehr darauf, seine Pneus zu schonen und nur die Aussicht auf den schönen Hafen zu genießen. "Ich kann wirklich nicht noch langsamer fahren", funkte er an seinen Kommandostand. Auch Leclerc nahm Kontakt auf zu seinem Team. "Darf ich jetzt Gas geben?". "Ja", lautete die Antwort.

Nach 20 Runden kamen Vettel und Verstappen als erste Piloten der Spitzengruppe an die Box, nach 21 Umdrehungen folgte Leclerc. Und als er wieder auf die Strecke bog, da war Vettel plötzlich vorbei an ihm. Mercedes wiederum verzockte sich völlig und ließ die Silberpfeile noch weit länger auf der Strecke: Erst nach 23 Runden hielt Bottas - auch er verlor Zeit mit dieser Strategie und sortierte sich hinter Verstappen wieder ein. Hamilton hielt es sogar bis Runde 26 auf dem Asphalt - er sortierte sich nur deshalb wieder vor Bottas ein, weil der von seinem Kommandostand aufgefordert worden war, abermals das Tempo rauszunehmen.

Eine Revision der Rangfolge zu seinen Gunsten wünschte sich wohl auch Leclerc in diesem Moment. Aber die blieb aus. Vettel fuhr stark, kämpfte sich an Giovinazzi und Gasly schneller vorbei als Leclerc. Er lag plötzlich sechs Sekunden vor dem Monegassen. Aufschließen konnte der erst, als der Williams von George Russell in der Mauer hing, weswegen das Safety Car auf die Strecke rollte. 20 Runden waren da noch zu fahren. Aber diesmal unterlief Sebastian Vettel kein Fehler.

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Quelle:
SZ vom 23.09.2019
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