Formel 1:Hat der Bügel ein Leben gerettet?

Formel 1: Spa, kurz nach dem Start: Fernando Alonsos McLaren fliegt über Charles Leclerc hinweg. Dessen Halo weist danach Schäden auf – sein Helm nicht.

Spa, kurz nach dem Start: Fernando Alonsos McLaren fliegt über Charles Leclerc hinweg. Dessen Halo weist danach Schäden auf – sein Helm nicht.

(Foto: John Thys/AFP)
  • Charles Leclerc ist am Sonntag unversehrt aus seinem Cockpit gestiegen, nachdem das Auto von Fernando Alonso über ihn hinüber geflogen ist - der Schutzbügel Halo könnte ihm dabei das Leben gerettet haben.
  • Bei der Einführung des Sicherheitsbügels hatte es noch viel Skepsis und Kritik gegeben.
  • "Er verdient es jetzt in der Formel 1 zu sein. Egal ob er hässlich ist oder nicht", sagt Leclerc.

Von Philipp Schneider, Monza

Im Motorhome von Sauber ist Mittagszeit, es riecht nach Geschmortem. Mittagszeit, das bedeutet auch bei Sauber, dass Essen gereicht wird. Am Donnerstag gibt es beim Schweizer Rennstall Ofenkartoffeln mit Scaloppine Milanese. Mailänderschnitzel mit Kalbfleisch aus der Oberschale. Angestellte mischen sich mit Journalisten, die Stimmung ist gut an den Tischen mit den Schnitzeltellern. Der Rennfahrer Charles Leclerc ist nicht dabei, aber er sitzt kurz darauf auf dem Podium der Pressekonferenz vor dem Italien Grand Prix. Leclerc wird gefragt, was er empfunden habe nach dem Rennen in Belgien vor vier Tagen, bei dem ihm, wäre sein Cockpit nicht geschützt gewesen vom Halo, man muss das so sagen, der fliegende McLaren von Fernando Alonso möglicherweise gegen den Kopf gesegelt wäre?

"Ich war frustriert", antwortet Leclerc. "Ich war frustriert, dass ich das Rennen nicht zu Ende fahren konnte." Leclerc, 20 Jahre alt, schaut dabei todernst. Er meint das genau so.

Leclerc macht weiter wie vorher. In der Formel 1 läuft es weiter wie vorher. Natürlich läuft alles so weiter. Die Rennserie ist seit ihrer Erfindung im Jahr 1950 schlimmere Unfälle gewohnt als den vom vergangenen Sonntag. Weit schlimmere. In den Sechziger- und Siebzigerjahren kam im Schnitt ein Fahrer pro Jahr ums Leben. Und vom 29. April bis 1. Mai 1994 erlebte die Formel 1 auf dem Autodromo Enzo e Dino Ferrari, rund 270 Kilometer entfernt von Monza, ein Horrorwochenende, bei dem sich selbst unsensible Historiker heute noch fragen, wie es danach überhaupt hatte weiterlaufen können.

Die exakte Rekonstruktion dieses Unfalls ist äußerst kompliziert

Schon im Samstagstraining verunglückte der Österreicher Roland Ratzenberger bei Tempo 300 mit seinem Simtek und brach sich das Genick. Er starb am Unfallort. Auch Rubens Barrichello baute während des Trainings mit seinem Jordan einen schweren Unfall - kam aber mit einer gebrochenen Nase und einem gebrochenen Arm davon. Am Sonntag raste der Brasilianer Ayrton Senna in der siebten Runde ungebremst in eine Mauer - und starb an schweren Kopfverletzungen. Ratzenberger und Senna hätte der Halo nicht geholfen. Aber Jules Bianchi vielleicht.

Der Franzose kam im Oktober 2014 in Suzuka von der verregneten Strecke ab, sein Marussia rutschte mit 126 km/h unter einen Abschleppwagen, der den Sauber von Adrian Sutil bergen sollte. Bianchi starb neun Monate später an seinen schweren Kopfverletzungen. Die Kräfte, die auf ihn wirkten, entsprachen dem 254-fachen Gewicht seines Kopfes mit Helm. Es war als hätte man, das ergaben Berechnungen, sein Auto aus 48 Meter Höhe auf den Boden fallen lassen. Ohne Knautschzone. Bianchis Unfall war so heftig, dass möglicherweise sogar ein Halo abgerissen worden wäre, aber er befeuerte - zusammen mit weiteren Unfällen, bei denen Fahrer Kopfverletzungen erlitten - die Debatte über die Notwendigkeit eines Kopfschutzes.

Bianchi und Leclerc waren Freunde, sie kannten sich seit Kindheitstagen. Gemeinsam gehörten sie der Nachwuchsakademie der Scuderia Ferrari an. Bianchi, obwohl nur acht Jahre älter, war sogar der Patenonkel von Leclerc. Ihre Väter waren ebenfalls eng befreundet. Bianchis Vater leitete Leclerc an bei seinen ersten Fahrversuchen auf der Kartbahn. Anders als sein Freund hat Leclerc am Sonntag nicht einmal eine Schramme davon getragen. Und vier Tage nach dem Rennen in Spa-Francorchamps ist der Start-Unfall von Nico Hülkenberg, Fernando Alonso und ihm noch nicht abschließend aufarbeitet. Vielleicht wird er es eines Tages sein. Vielleicht auch nie.

Kritiker befürchteten, der Bügel könnte eher Gefahr als Schutz sein

Die Rekonstruktion ist komplizierter als bei einem Auffahrunfall eines Renault Twingo im Kreisverkehr von Kassel Bettenhausen. Mehrere Autos waren beteiligt. Und gemeinsam strapazierten sie die physikalischen Gesetze bis ins Extrem. Hülkenbergs Renault raste nach dem Start in der Spitzkehre "La Source" in das Heck von Alonsos McLaren, der hob ab und traf mit seiner Unterseite den Halo an Leclercs Sauber. Der Lack auf dem Titanbügel, der den Kopf der Fahrer wie ein Käfig umhüllt, war abgesplittert. Auch die Reifen des fliegenden McLarens hatten Spuren hinterlassen am Halo. Hat ihm der Bügel das Leben gerettet? Oder wäre Leclerc auch ohne Halo unversehrt aus dem Sauber gestiegen, weil Alonsos McLaren um Haaresbreite an seinem Kopf vorbeigesegelt wäre?

Die Frage ist deshalb relevant, weil in der Formel 1 schon vor der Einführung des Halo in diesem März zwei Jahre lang gestritten worden war, ob so ein neuer Sicherheitsbügel wirklich sein müsse? Und ob der Halo der Formel 1 nicht den Kern ihrer Identität raube, das hatten Motorsportpuristen eingeworfen, wenn sie einer Generation von todesverachtenden Rennfahrern in brennbaren Kisten und den teilweise voyeuristisch veranlagten Zuschauern auf den Tribünen und im Fernsehen die makabre Aussicht auf den allzeit denkbaren größtmöglichen Unfall nehme?

Kritiker des Halo hatten argumentiert, dass der Bügel vielleicht sogar das Gegenteil von Schutz bewirke, sollte sich herausstellen, dass er Rettungskräfte nach einem Crash dabei behindert, den Fahrer aus dem Auto zu bergen. Hässlich, das meinten sehr viele Fahrer, sei er allemal. Und waren die Formel-1-Wagen überhaupt noch Cabrios, also Fahrzeuge ohne Dach, in denen der Fahrtwind die Haare der Fahrer zerzausen würde, wären ihre Köpfe nicht behelmt?

Das Cabriowesen ist ein Alleinstellungsmerkmal des Formelsports.

Die Aufnahmen von Leclercs Onboard-Kamera sind verschwommen. Rennleiter Charlie Whiting hatte am Sonntag einen Blick auf alle verfügbaren Bewegtbilder geworfen und gemeint, dass sich die Untersuchung schwierig gestalten würden. Er kündigte außerdem an, die Befestigung von Leclercs Halo darauf zu untersuchen, ob sich der Bügel beim Aufprall von Alonsos McLaren verzogen hatte. "Es wäre spekulativ zu sagen, dass der Halo Leclerc das Leben gerettet hat. Aber man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die Reifenabdrücke ohne Halo auf Charles' Helm gewesen wären", sagte Whiting.

Ob er dem Halo, wurde Leclerc gefragt, schon irgendwie ein bisschen dankbar sei? "Er verdient es jetzt, in der Formel 1 zu sein. Egal ob er hässlich ist oder nicht."

Zur SZ-Startseite
Formula One F1 - Belgian Grand Prix - Spa-Francorchamps

Formel 1 in Spa
:Vettels Mondrakete funktioniert überall

Beim Sieg in Belgien sind Ferrari und Sebastian Vettel so überlegen, dass das Rennen eine Wende im WM-Duell mit Mercedes bedeuten könnte. Rivale Hamilton stellt Vermutungen an.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: