Hamilton vs. Verstappen in der Formel 1:Das Ende der Diplomatie

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Der 101. Grand-Prix-Sieg, der sich fast wie der erste anfühlt: Lewis Hamilton herzt nach seiner unwirklichen Fahrt auf dem Interlagos-Kurs die Trophäe des Ersten.

(Foto: Zak Mauger/Motorsport Images/Imago)

Nach der Sensationsfahrt von Lewis Hamilton in Interlagos erreicht sein Duell mit Max Verstappen drei Rennen vor Schluss die entscheidende Phase: Mercedes verschärft den Ton - Red Bull staunt wie nach einem Zaubertrick.

Von Philipp Schneider

Es wird auch Lewis Hamilton nach der Zieldurchfahrt klar gewesen sein, dass dieser Große Preis von São Paulo des Jahres 2021 noch lange im kollektiven Gedächtnis haften wird. Ganz egal, ob das Rennen einst im Rückblick als der finale Wendepunkt im Titelkampf gehandelt werden wird, an dem Hamilton seinem Rivalen Max Verstappen den entscheidenden Hieb versetzte. Oder ob es doch nur ein letztes Aufbäumen eines siebenmaligen Weltmeisters markierte, ehe sich dieser einem zwölf Jahre jüngeren Emporkömmling geschlagen geben musste auf dessen Weg zum ersten Titel. Hamilton jedenfalls musste am Sonntag in die Tiefen seines Gedächtnisses steigen, um dort die Relikte einer vergleichbaren Ruhmesfahrt zu finden. So tief, dass er diese nicht mehr ganz korrekt zusammenbaute.

Sein Vater Anthony habe ihn vor dem Start an ein Episode aus der Nachwuchsserie Formel 3 erinnert, erzählte Hamilton. Daran, wie er 2004 als junger Pilot in einem Qualifikationsrennen als 20. gestartet und 10. geworden sei - und dann am Folgetag das Rennen gewann. Dabei war er sogar besser: Er fuhr los als 22. und wurde 11. Danach erst verlängerte McLaren seinen Vertrag; und Hamilton hatte sich die Lizenz für seine Weltkarriere selbst erkämpft. Nicht ahnend, dass diese 17 Jahre und sieben wuchtige Weltmeisterpokale später auf einen ungeheuerlichen Klimax zusteuern würde.

An zwei Tagen machte Hamilton in São Paulo in der Addition unfassliche 24 Positionen gut. Im Sprint am Samstag kämpfte er sich von Platz 20 auf fünf. Im Rennen dann von Rang zehn auf eins. Dabei konnte er, welch herrliche Pointe, nur so viele Plätze gutmachen, weil er um exakt diese Zahl wegen zweier Delikte strafversetzt worden war. Am Samstag bestraften ihn die Kommissare, weil der Abstand zwischen seinen offenbar beschädigten Heckflügel-Elementen nicht regelkonform war, am Sonntag für den bereits fünften Motor in dieser Saison, der fällig war. Diese Bußen machten Hamiltons Revanche noch süßer.

Diese glich nun einer klassischen Heldenreise, auf der der Protagonist alle Widerstände überwindet. Erst als spät am Abend die Meldung einging, dass Hamilton auch noch 5000 Euro Strafe zu entrichten hat, weil er sich auf der Ehrenrunde abgeschnallt hatte, um sich eine Flagge Brasiliens zu schnappen, hätte die Heldengeschichte ins Komödiantische kippen können. Wer eigentlich kommt auf die Idee, einen Multimillionär, der sein Lebensunterhalt mit Rennfahren verdient, mit ein paar aus seiner Sicht lausigen Euros zu bestrafen für ein Anschnalldelikt auf einer privaten Strecke?

F1 Grand Prix of Mexico - Practice

Das Ende der Diplomatie: "Ich werde mein Team und meine Fahrer verteidigen, egal was kommt", sagte Mercedes-Teamchef Toto Wolff (Archivbild).

(Foto: Clive Mason/Getty Images)

Den Genrewechsel ins Seichte verunmöglichte allerdings der Furor des Mercedes-Teamchefs Toto Wolff, der, obschon er der Gewinner des Tages war, verbal derart in die bereits kommende Schlacht zog, als habe er die vergangene mit wehenden Fahnen verloren. "Wenn die Entscheidungen immer gegen uns ausfallen, bin ich einfach nur wütend darüber, und ich werde mein Team und meine Fahrer verteidigen, egal was kommt", wütete Wolff: "Ich war immer sehr diplomatisch darin, wie ich Dinge diskutiere. Aber die Diplomatie hat geendet."

Red Bull sammelt und sammelt Material für einen Protest - aber was ist, wenn alles mit rechten Dingen zugeht?

Abgesehen vom harten aber regelkonformen Verdikt in der Heckflügel-Causa - Red Bull hatte gepetzt -, war Wolff verständlicherweise darüber erbost, dass sich Verstappen mit einem Knallhartmanöver gegen eine Überholung Hamiltons gestemmt hatte. Das hatten sich die Rennkommissare nicht einmal genauer angeschaut. Der seit Saisonbeginn andauernde Psychokrieg hat jedenfalls auch bei Wolff inzwischen Spuren gezeitigt. Am Ende von Hamiltons erstem Sensationsritt funkte er rotzig und trotzig: "Fuck them all!"

Weltmeister Damon Hill, nicht bekannt als Rechtsblinker der Formel-1-Geschichte, schrieb am Sonntag, er habe soeben "eines der besten Rennen, das ich jemals gesehen habe" erlebt. Und George Russell beschrieb Hamilton als "absolutes Biest". Er wolle sich dessen Darbietung auf der Strecke von Interlagos als Aufzeichnung "noch einmal anschauen". Als wäre Russell ein Fan und nicht eines der größten Talente, die der Motorsport jemals hervorbrachte.

Nun verleiht die Formel 1 bekanntlich keine Extrapunkte für die B-Note. Ob einer Erster wird und dabei die Welt in Staunen versetzt, oder ob er mit einer Hand am Steuer im überlegenen Auto einen Start-und Zielsieg über die Linie wuppt, macht rechnerisch keinen Unterschied. Auch führt Verstappen drei Rennen vor Schluss noch immer mit 14 Punkten. Und doch spürten am Sonntag wohl alle Protagonisten des Titelkampfs, dass Hamilton etwas aufgeführt hatte, das wuchtiger war als eine Demütigung Verstappens: eine Art Zaubertrick. Ein ratloses Publikum suchte vergeblich nach einem unsichtbaren Seil, an dem der tonnenschwere Elefant ja irgendwie durch den Raum gesegelt sein musste.

F1 Grand Prix of Brazil

Diesmal nur Zweiter, aber immer noch Spitzenreiter in der Gesamtwertung: Red-Bull-Pilot Max Verstappen.

(Foto: Mark Thompson/Getty Images)

Gegner Red Bull wunderte sich über die erstaunliche Kraft von Hamiltons "Rakete", die sich nicht vollumfänglich damit erklären ließ, dass dessen Motor in Interlagos noch jungfräulich war. Auch sammelt Red Bull Material für einen Protest über einen angeblich zu flexiblen Heckflügel bei Hamilton. Sie sammeln und sammeln, nur zum Einreichen sei es noch zu früh, heißt es. Und während die Jäger Wolff und Hamilton in Wort und Tat ins Horn blasen, stellt sich die Frage, was die Sammler machen, sollte sich herausstellen, dass es gar kein unsichtbares Seil gibt? Allein die Suche nach diesem könnte Verstappen die Konzentration rauben, die er bislang in seiner erstaunlich fehlerlosen Saison gezeigt hat.

Wie sagte Hamilton kürzlich im SZ-Interview? Es gebe etwas, das alle Gegner in seiner langen Karriere gemeinsam gehabt hätten, egal ob Alonso, Rosberg oder Verstappen: "Sie waren alle geistig verletzlich!" Kurze Pause. "Und das ist eine interessante Beobachtung, wie ich finde."

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Brands Hatch, England. 20-22 July 1984. Niki Lauda (McLaren MP4\2 TAG Porsche) 1st position at Druids. Ref-84 GB 19. Wo; Lauda

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