Formel-1-Historie:Sennas brillanter Gleitflug über die Pfützen

Estoril Portugal 19 21 April 1985 Ayrton Senna Lotus 97T Renault celebrates 1st position with

Bis heute die Referenz aller Regenfahrten: Ayrton Sennas Zielankunft im Lotus in Estoril, wo ihn Teamchef Peter Warr (re.) erwartet.

(Foto: imago)

Vor genau 35 Jahren gewinnt Ayrton Senna im Regen von Estoril sein erstes Formel-1-Rennen - und das mit großem Vorsprung. Bis heute gilt der Brasilianer vielen als der beste Rennfahrer der Geschichte.

Von Philipp Schneider

Es gibt Fotos, die erzählen weit mehr als den Moment, die konkreten Ereignisse, die auf ihnen abgelichtet sind. Weil der Betrachter gar nicht anders kann, als im Rückblick den Beginn einer sehr viel größeren Geschichte zu sehen: Das Foto, das am 21. April 1985 in Estoril aufgenommen wurde, gehört zu den ikonischen Aufnahmen der Formel 1, man verliert sich in den herrlichen Details dieses Wimmelbilds der Sportgeschichte.

Ein mit Zigarettenwerbung zugekleisterter Rennwagen biegt nach dem Grand Prix in Portugal ein in den sogenannten Parc fermé. Der Rennfahrer mit einem auch für damalige Verhältnisse kreischend kanariengelben Helm streckt seinen linken Arm aus dem Cockpit. Seine behandschuhte Faust fährt wie zum Trotz durch die dicken Wassertropfen der Gischt, die seine Reifen aufwirbeln. Im Hintergrund drängen sich Zuschauer in Regenponchos und unter Regenschirmen vor dem Zaun; und rechts, genau dort, wo heutzutage kein Teamchef mehr stehen würde, steht ein Teamchef mit Bomberjacke und Stetson-Mütze: nicht hinter dem Kommandostand, nicht im Schutze der Boxenmauer, sondern am Scheitelpunkt der Kurve, inmitten des Geschehen. Dort tanzt Peter Warr auf der Stelle, fährt die Arme zur Begrüßung aus wie ein Albatros seine Flügel. Warr sieht aus, als wolle er nicht nur den Piloten begrüßen, sondern sich am liebsten vor die Haube schmeißen, um den ganzen Rennwagen in den Arm zu nehmen.

Was das Foto nicht zeigt, dafür aber die Aufnahmen des bewegten Bildes: Wie der damals 25-jährige Ayrton Senna nach dem ersten Sieg seiner Formel-1-Karriere nicht sitzen bleibt im Cockpit, sondern aufsteht und schon halb rauswippt mit seinem Oberkörper aus dem Lotus, ehe er dann um die Kurve biegt, wo er Peter Warr fast über den Haufen fährt.

"Man hatte das Gefühl, dass er als Einziger nicht im Regen fuhr"

Ayrton Senna Brasilien Lotus Renault

1985 sitzt Senna im Lotus-Renault 97T, zum ersten Mal fährt er ein Formel-1-Auto, mit dem sich Rennen gewinnen lassen.

(Foto: imago/Sven Simon)

Wenn es regnet, erzählt die Formel 1 ihre besten Geschichten. Weil dann die Fahrer in diesem von Physik und Ingenieurwissenschaften diktierten Sport zurückgeworfen werden auf ihr Talent. Wenn es regnet in der Formel 1, dann zeigt sich das Können der Fahrer, weil der Regen die unterschiedlichen Voraussetzungen nivelliert, welche die Technik beisteuert. Der Regen teilt das Feld in jene, die abfliegen, und jene, die fliegen. Das war schon vor dem 21. April 1985 so, und so ist es noch heute. Doch Ayrton Sennas Gleitflug über die Pfützen in Estoril ist so etwas wie die Referenz aller Regenfahrten. Eine Blaupause zur Vermeidung des Aquaplanings bei Höchstgeschwindigkeit. Wenn immer Michael Schumacher, Lewis Hamilton und Max Verstappen nach ihm auf der nassen Strecke zauberten, dann wurden Erinnerungen geweckt an jenen kalten Apriltag in Sennas liebstem europäischem Land, in dem die Menschen seine Sprache sprechen.

An diesem Sonntag vor 35 Jahren in Estoril werden Menschen zu Bewunderern eines Rennfahrers, der vielen bis heute als der beste der Geschichte gilt. Gerard Ducarouge, der Chef-Designer von Sennas Lotus, schwärmte noch Jahre später über die "unglaubliche fahrerische Leistung" des Brasilianers: "Beim Betrachten eines Videos des Rennens entsteht der verblüffende Eindruck, dass er auf einer anderen Strecke als alle anderen Fahrer unterwegs war", sagt er: "Ayrton überholte die Leute außen und innen. Man hatte das Gefühl, dass er als Einziger nicht im Regen fuhr." Senna überholt zwar tatsächlich außen und innen, er macht aber keine einzige Position gut, weil er von der Pole Position, der ersten seiner Karriere, in das Rennen gestartet ist und niemanden vorbeilässt. Alle seine Manöver sind Überrundungen.

Als er schließlich die Zielflagge nach mehr als zwei Stunden erblickt, hat Senna nicht nur einen Vorsprung von mehr als einer Minute herausgefahren und auch noch die schnellste Runde vorgelegt. Er hat zudem das außergewöhnliche Versprechen eingelöst, das er eine Saison zuvor gezeigt hatte, als er als Rookie bei ähnlich miserablem Wetter in Monaco in einem unterlegenen Toleman einen brillanten zweiten Platz hinter Alain Prost herausgefahren hatte - seinem späteren Teamkollegen bei McLaren, mit dem er sich die Mutter aller Stallrivalitäten liefern wird.

Im Jahr 1985 steht Senna zum ersten Mal ein Auto zur Verfügung, mit dem sich Rennen gewinnen lassen. Der Lotus-Renault 97T läuft gut. Theoretisch. Ausgerechnet beim Saisonauftakt in seiner Heimat muss Senna allerdings, auf Position drei liegend, mit einem Elektrikdefekt aufgeben. Sein Teamkollege Elio de Angelis beendet das Rennen in Rio de Janeiro als Dritter hinter Alain Prost, der schon damals McLaren fährt, und Michele Alboreto im Ferrari. Schon vor dem zweiten Rennen in Estoril ahnt Senna, dass er teamintern liefern muss. Und er liefert.

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Keiner erspürt an diesem Tag im Regen von Estoril die Linie so wie Ayrton Senna im Lotus.

(Foto: imago images / Motorsport Images)

Die dunklen Regenwolken ziehen erst kurz vor dem Start herauf, ein Sturm drückt sie vom Atlantik über die Strecke. Dem junge Rennfahrer auf der Pole Position dämmert es, dass er gut starten sollte. Um sich den gerade unter feuchten Rennbedingungen elementaren Vorteil der freien Bahn zu erhalten. Solange niemand vor ihm fährt, gibt es auch keine Reifen, die den Regen aufwirbeln und Gischt auf seinem Visier verteilen. Senna startet gut genug, um vor der ersten Kurve noch immer in Führung zu liegen. Vor de Angelis, der bei trockenen Bedingungen in der Qualifikation mehr als eine Sekunde langsamer war als Senna, sich dann aber unmittelbar nach dem Start vorkämpft auf Platz zwei.

Von da an fährt Senna ein einsames Rennen.

Nur neun Fahrer sehen überhaupt die Zielflagge an diesem Tag

"Er hat getan, was alle guten Rennfahrer tun - er hat nach dem Grip gesucht", hat sich Sennas damaliger Renningenieur Steve Hallam erinnert. Und dieser Grip ist bei Nässe eben nicht immer auf der Ideallinie zu finden.

Bei Regen müssen der Fahrer erspüren, wo es langgeht. Wie ein Blinder, der sich mit seinem Blindenstock durchs unbekannte Terrain bewegt. "Ayrton war sehr gut darin, seine Linie anzupassen, das Auto zu fühlen und den Grip zu finden", sagt Hallam. Hinter Senna fliegen seine Konkurrenten reihenweise von der Strecke, Keke Rosberg verliert den Wagen zu Beginn der Start- und Ziel-Gerade, Alain Prost kreiselt bei Aquaplaning gegenüber der Boxenmauer von der Bahn. Bereits in den Aufwärmrunden waren Nigel Mansell und Eddie Cheever verunglückt, weswegen sie aus der Boxengasse ins Rennen starten mussten. Und während des Rennens signalisierten manche Piloten an die Kommandostände, dass der aus ihrer Sicht viel zu feuchte Wettbewerb abgebrochen werden sollte. Nur neun Fahrer sehen überhaupt die Zielflagge an diesem Tag. Bis auf den Zweitplatzierten, Michele Alboreto im Ferrari, überrundet Senna sie alle. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie ungewöhnlich die Bedingungen auf Strecke waren: Sennas schnellste Runde ist 23 Sekunden langsamer als seine Zeit im Qualifying.

Peter Warr, der Teamchef mit dem Stetson, erlebt den ersten Sieg eines Lotus seit drei Jahren. Für ihn ist Sennas Vorstellung, dargeboten bei einem Wetter, bei dem andere Menschen nicht einmal ihren Hund ausführen würden, wie er sagt, eines der größten Rennen aller Zeiten. "Aber nicht, weil der Wettbewerb so eng gewesen wäre, sondern aus dem genau entgegengesetzten Grund", wie er später erzählte.

Und Senna selbst? Er blickte noch Jahre später, da war er bereits dreimaliger Weltmeister, auf diesen speziellen Tag in Estoril zurück. Zusammen mit seinem ersten WM-Titel sei der Moment einer der besten, wenn nicht der beste Moment in seiner bisherigen Karriere gewesen. "Es war ein Rennen voller Erinnerungen und voller Anspannung - ein Rennen, das ich ganz sicher für den Rest meines Lebens im Gedächtnis behalten werde."

Auch dieser Gedanke schwingt mit beim Betrachter des ikonischen Bildes vom 21. April 1985: Es erzählt den Beginn der großen Geschichte des Ayrton Senna. Und jedermann weiß, dass sie viel zu früh endete.

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