Formel 1:Ferrari lenkt sich mit Schrottplatz-Poesie ab

Kimi Raikkonen Stoffel Vandoorne

Ein Crash in der ersten Runde: Sebastian Vettel im Rennen in Singapur.

(Foto: AP)
  • Wer ist schuld am Start-Crash von Singapur, an dem drei Fahrer beteiligt waren?
  • In der Debatte hält sich vor allem ein Vorwurf an Sebastian Vettel, dem sein heftiger Spurwechsel wohl den WM-Titel gekostet haben könnte.

Von Elmar Brümmer, Singapur

Es sind zwei riesige Plakate, die auch am Morgen nach dem nächtlichen Chaos auf der Rennstrecke in der Innenstadt von Singapur rivalisieren. Das eine bewirbt die "Aufregung in jeder Kurve", das andere "Die teuflische Seite der Nacht". Eins wirbt für den Flutlicht-Grand-Prix, das andere für einen Halloween-Film. Beide passen thematisch ganz gut zu dem, was sich auf der improvisierten Formel-1-Rennstrecke an der Marina Bay abgespielt hatte.

Das Feuerwerk bei der Zieldurchfahrt von Lewis Hamilton war diesmal Nebensache, von dem großen Knall nach dem Start hingegen werden manchen Fahrern noch eine Weile die Ohren brummen. Die Formel 1 diskutiert gerade noch darüber, wer die Schuld trägt an dem gemeinsamen Unfall von Sebastian Vettel, Kimi Räikkönen und Max Verstappen. Was aber folgt auf diese Debatte?

"Ja, man kann sagen, dass ich Hilfe von oben bekommen habe"

Der große Gewinner hegt jedenfalls Sympathien für den großen Verlierer. Die Schuldfrage des spektakulären Startunfalls, den Sebastian Vettel zweifelsfrei maßgeblich mitverursachte, indem er vor der ersten Kurve nach innen zog und damit Verstappen in die Flanke von Räikkönen scheuchte, mochte zwar auch Mercedes-Pilot Lewis Hamilton nicht klären. Allerdings wisse er aus Erfahrung, sagte Hamilton, "dass man den von Position zwei aus startenden kaum sieht im Spiegel. Wenn er mindestens so gut wegkommt wie man selbst, verschwindet er im toten Winkel."

Weshalb Vettel zu Beginn des Großen Preises von Singapur auch völlig überrascht war, dass neben ihm nicht nur Verstappen durch die Gischt raste, sondern ganz außen auch noch der von Position vier gestartete Teamkollege Räikkönen. Den bemerkte Vettel erst, als der Finne ihm schon den Kühler und den Flügel abrasiert hatte. Hamilton sagt: "Du denkst an nichts anderes, als dir deinen Platz zu sichern, nach innen zu ziehen und die anderen hinter dir zu lassen. Und dann plötzlich hast du sie wieder im Blick." Am Ende eines solchen Manövers, so ist Hamilton zu verstehen, hat der Führende entweder weiterhin die Führung - oder es gibt einen Haufen Karbonschrott.

Dass sich zwei Ferrari-Piloten gegenseitig in der ersten Runde aus dem Rennen werfen, hat es noch nie gegeben in der Formel-Geschichte. Mag sein, dass diese Statistik aus 970 WM-Läufen wertlos ist, aber sie zeigt schon auch, wie unnötig diese Aktion von Vettel war. Wer in Singapur von der Pole Position startet, dem ist der Sieg kaum zu nehmen. Vettel hätte ja außerdem nicht einmal gewinnen müssen. Was wäre denn schon geschehen, hätte er den etwas besser gestarteten Verstappen ziehen lassen, um die erste Kurve ohne Schaden zu überstehen?

Wichtig wäre allein gewesen, Hamilton weiter zu distanzieren, um die Führung in der Gesamtwertung wieder zu übernehmen. Und jetzt aber liegt Vettel 28 Punkte hinter Hamilton. Der Brite war von Rang fünf gestartet und hatte eigentlich nur Schadensbegrenzung im Sinn. Er wollte irgendwie durchkommen, möglichst viel punkten, Singapur so schnell wie möglich vergessen - und dann auf die nächsten Strecken hoffen, die seinem Wagen viel besser liegen. Vergessen muss jetzt Vettel.

Das kann das Aus im Titelrennen bedeuten

Ein Ausfall bei gleichzeitigem Triumph des Gegners, so etwas kann das Aus im Titelrennen bedeuten. Hamilton hat das im Vorjahr nach seinem Motorenplatzer in Malaysia erfahren müssen, in diesem Rennen hat er den Titel an Nico Rosberg verloren. Eine Erinnerung, die ihn nun auch in Singapur noch begleitet hat, als er an der Spitze des Feldes längst auf und davon war und sich auch von zwei weiteren Safety-Car-Phasen nicht mehr bremsen ließ. Die Angst vor einer noch immer möglichen Schmach hat ihm die Sinne geschärft. Hamilton dachte an Ayrton Senna. "Ich denke immer an das eine Rennen von Senna in Monaco, als er in Führung liegend in der Mauer gelandet ist", hat Hamilton erzählt. "Und es ist dann fast so, als würde er zu mir sprechen: bleib' bloß konzentriert."

Auch wenn die Rennkommissare die drei Unfallbeteiligten freisprechen mussten, weil es keinen Alleinschuldigen gab, bleibt in der Debatte ein Vorwurf an Vettel, der von Verstappen und fast wortgleich auch vom ehemaligen Weltmeister Damon Hill geäußert wurde: "Sebastian hat die Situation falsch eingeschätzt. Er muss an die Weltmeisterschaft denken, nicht an seine Position in der ersten Kurve." Im Nachhinein wird sich das auch Vettel denken, der dem Rückschlag ungewöhnlich distanziert begegnet ist, und immer wieder ein Wort wiederholte: "bitter".

Ferrari-Teamchef Maurizio Arrivabene, der vermutlich nach Floskeln rang, um den peinlichen Doppelausfall seinem Vorgesetzten Sergio Marchionne zu erklären, übte sich in Schrottplatz-Poesie: "Die Schlacht ist nicht vorbei, sie ist nur schwieriger geworden. Aber alle bei Ferrari haben das springende Pferdchen auf ihre Herzen gestempelt."

Weniger pathetisch, aber nicht minder überzeugend, stellte Hamilton fest: "Ich fahre mit mehr Spaß und besser denn je." In dieser Saison hat er bislang die Hälfte der 14 WM-Läufe gewonnen, der Erfolg von Singapur war der 60. Sieg seiner Karriere. Ein Rennen aus der dritten Reihe, das als vage Attacke gegen die Aussichtslosigkeit gedacht war. Bis zu jenem Moment, als dicke Tropfen in die Startaufstellung klatschten. "Ja, man kann sagen, dass ich Hilfe von oben bekommen habe", befand er, "ich wusste, dass unter diesen Bedingungen alles neu gemischt würde. Es war, als hätte jemand den Reset-Knopf gedrückt. Denn als Fahrer macht man bei diesen Verhältnissen den Unterschied aus." Und manchmal macht es bereits den Unterschied, sich einfach aus einem Unfall rauszuhalten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: