Formel 1 in Aserbaidschan:Das Drama des Ferrariseins

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"Es tut weh. Einfach nur weh": Charles Leclerc trauert nicht nur wegen seines Motorschadens in Baku. Sondern wegen der liegengelassenen Punkte in drei Rennen nacheinander. (Foto: James Gasperotti/Imago)

Eine ganze Weile sah es so aus, als steuere Charles Leclerc auf den ersten WM-Titel eines Fahrers im roten Wagen seit 2007 zu. Doch nach drei Rennen mit Pleiten, Pech und Pannen ist sein größter Gegner sein eigenes Team.

Von Philipp Schneider

Der neue Mann an der Spitze von Ferrari kam nicht allein, er brachte etwas mit. Mag auch sein, es war gar nicht seine Idee, sondern sie gaben es ihm mit auf den Weg. So genau weiß man das nicht, es tobte vor dreieinhalb Jahren ein von Verzweiflung und sportlichem Misserfolg befeuerter Machtkampf in Maranello, der ordentlich Staub aufwirbelte. Vieles blieb undurchsichtig. Als sich die Sedimente wieder gesetzt hatten, da stand da jedenfalls nicht nur der neue Teamchef Mattia Binotto im Scheinwerferlicht. Es flirrte auch ein neuer Slogan über dem ältesten und garantiert emotionalsten Rennstall der Formel 1: Essere Ferrari. Ferrari sein.

Binotto, heute 52, hatte im Januar 2019 schon ein Vierteljahrhundert bei Ferrari gearbeitet. Der in Lausanne geborene Italiener heuerte 1995 als Testingenieur an, von da an stieg er unauffällig, aber hartnäckig immer weiter auf. Er wurde Renningenieur, Chefingenieur, Leiter der Motorabteilung, Direktor der Bereiche Antrieb und Elektronik, schließlich Technischer Direktor. Und jetzt also: Teamchef. Wenn einer Ferrari war, im Guten wie im Schlechten, dann er, Mattia Binotto.

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Nun gab es schon damals einen eklatanten Widerspruch zwischen der Frage, was Ferrari war und was Ferrari sein wollte. Seit 2008 hatte das Team keinen Konstrukteurstitel gewonnen. Und der letzte Fahrer in Rot, der einen Weltmeistertitel holte, war Kimi Räikkönen 2007. Als Binotto beim Amtsantritt gefragt wurde, was Essere Ferrari eigentlich bedeute, da bat er höflich um die Genehmigung, die Antwort in seiner Muttersprache geben zu dürfen. Essere Ferrari sei nur auf Italienisch anständig zu erklären, sagte er auf Englisch. "Es bedeutet, was uns auszeichnet. Passion, Entschlossenheit, Ernsthaftigkeit, Mut, Exzellenz", erklärte er schließlich. Und noch etwas sagte Binotto damals: "Wir haben die Pflicht, dass unsere Tradition fortgesetzt wird. Es ist eine Mission, wieder zu gewinnen. Wir hatten 2018 viele gute Momente, aber wir haben nicht den Titel geholt."

"Die Zuverlässigkeit ist tatsächlich unsere Sorge", sagt Binotto

Am Sonntag, nach dem Fiasko beim Großen Preis von Aserbaidschan, dem ersten technisch bedingten und so auch gewerteten Doppelausfall beider Ferraris seit 9100 (!) Tagen - 1997 in Silverstone hatten Eddie Irvine und Michael Schumacher unfreiwillig geparkt - konnte den Beobachter mal wieder der Reflex überkommen, diesen Binotto wachzurütteln und ihn mit seiner eigenen Definition des Ferrariseins aufzuwecken. Mit einer beneidenswerten Ruhe, die ihm zu eigen ist, sprach er nicht nur über das Unheil, das in Baku über seine beiden Autos und vor allem den nach 20 Runden in Führung liegenden Charles Leclerc hereingebrochen war. Er moderierte insgesamt vier Ausfälle des Rennens am Kaspischen Meer. In allen havarierten Wagen steckte ein Motor der Scuderia - auch im Haas von Kevin Magnussen und im Alfa Romeo von Guanyu Zhou.

Teamchef mit beneidenswerter Ruhe: Mattia Binotto. (Foto: Hamad I Mohammed/Reuters)

Sein Team sei noch mit den detaillierten Schadensprotokollen beschäftigt, flötete Binotto. Tatsächlich erfordert so etwas ja Zeit und Zerlegung. Auf der anderen Seite legte er sich erstaunlich klar fest, dass im Falle des Defektes am Alfa das Problem beim Kunden zu suchen sei. Während am Wagen von Carlos Sainz die Hydraulik versagte, war die Diagnose bei Leclerc und Magnussen eindeutig problematisch: Motorschaden.

"Die Zuverlässigkeit ist tatsächlich unsere Sorge, denn sie ist ein Schlüsselfaktor im Kampf mit Red Bull, wie die Leistungsfähigkeit auch", gab Binotto dann zumindest in sehr ruhigem Tonfall zu. Von einem Konstruktionsfehler wollte er allerdings nichts wissen, jeder Schadensgrund sei individuell verschieden gewesen: "Es macht mir Sorgen, auch deshalb, weil ich nicht genau weiß, wo genau unser Problem liegt." Glaubt man nicht an einen Zufall, deutet also vieles auf ein Qualitätsproblem in Maranello hin. Resultat einer Motoren-Entwicklung, bei der mehr Hingabe in die Kraft als in die Zuverlässigkeit investiert wurde. Essere Ferrari?

Allein in den vergangenen drei Rennen wurde Leclerc dreimal von seinem Team der Punkte beraubt

Ausgerechnet jetzt, in einer Saison, in der es eine ganze Weile so aussah, als erhebe sich die Scuderia endlich aus dem tiefen Tal, liefert sie der Konkurrenz von Red Bull die Punkte wie am Fließband. 34 Zähler beträgt der Rückstand Leclercs auf Titelverteidiger Verstappen. Vor zwei Monaten, nachdem Leclerc in Australien den bislang letzten Sieg der Roten eingefahren hatte, lag er noch 46 Zähler vor dem Niederländer. Allein in den vergangenen drei Rennen wurde Leclerc dreimal von seinem Team der Punkte beraubt. In Barcelona streikte genau wie jetzt in Baku der Motor, dazwischen gab es das Strategiedesaster in Monte Carlo. Als Leclerc nun angesprochen wurde auf die nicht enden wollende Misere, da sagte er: "Es tut weh. Einfach nur weh."

Zu den Schmerzen gesellt sich die psychologische Erfahrung, dass jenseits aller Qualitätsprobleme in der Motoren- und Strategieabteilung bei Ferrari noch immer einer der schnellsten Piloten im kräftigsten Auto sitzt - was sich an der eindrucksvollen Qualifikationsstatistik Leclercs zeigt. Aber sechs Pole-Positionen in gerade mal zwei Siege gewandelt zu haben, das kann auch einen zähen Burschen wie Leclerc irgendwann ins Grübeln versetzen, dem der Mercedes-Teamchef Toto Wolff mal attestierte, er verfüge auch dank seines Aufstiegs aus einfachen sozialen Verhältnissen über eine außergewöhnliche "Resilienz".

Rätselhafter Qualm: Ferrari wurde zuletzt zu oft ausgebremst von technischen Problemen. (Foto: Glenn Dunbar/Motorsport Images/Imago)

Wer erahnen will, was in dieser Saison auf dem Spiel steht für Leclerc und Binotto, der muss sehen, was der Rennstall in den vergangenen Jahren in Kauf genommen hat, um irgendwann mal wieder Ferrari zu sein. Zweimal, 2017 und 2018, waren sie mit dem Frontmann Sebastian Vettel nah dran am Titel. Sie wurden ausgebremst von einer technisch und organisatorisch überlegenen Mercedes-Truppe und der regennassen Sachskurve am Hockenheimring.

Um den Erfolg zu erzwingen, operierten sie in ihrer Verzweiflung schließlich im Graubereich und schraubten heimlich einen Motor mit der Kraft einer Mondrakete zusammen. Nachdem sie ertappt worden waren, Karma is a bitch, fuhren sie das schlechteste Saisonergebnis seit vier Jahrzehnten ein. Und ließen schließlich, im Vorjahr, eine ganze Saison lang den Wettbewerb wie Zuschauer an sich vorbeiziehen, um sich auf den Moment vorzubereiten, an dem Ferrari mit Wucht zurückschlagen sollte.

Dieser Moment ist jetzt, 2022. Jener Titelkampf unter einem neuen technischen Reglement, das nicht nur das bisherige Kräfteverhältnis, sondern auch den siebenmaligen Weltmeister Lewis Hamilton in seinem Cockpit im wahrsten Sinne so erschüttert - Stichwort: "Bouncing" -, dass Mercedes als Titelanwärter aus dem Spiel genommen zu sein scheint. Just in diesem Moment steigt neuerdings rätselhafter Qualm auf von den Motoren. Und der stets gelassene Binotto, der es zu Beginn der Corona-Pandemie fertigbrachte, den Fahrer Vettel seelenruhig am Telefon damit zu überraschen, seine Zeit bei Ferrari gehe zu Ende, er klingt schon wieder wie das Orchester, das auf der Titanic spielte, um die Passagiere so lange wie möglich vom nahenden Untergang abzulenken. Selbstverständlich ist das auch eine Gabe.

Das Rennen an diesem Sonntag in Montreal sei kein "Must-win" für Ferrari, sagt Binotto. "Wir konzentrieren uns auf unsere Aufgabe von Rennen zu Rennen und versuchen an jedem Wochenende, unser Potenzial zu optimieren."

Essere Ferrari. Immer tapfer weiterschrauben. Und lächeln.

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