Süddeutsche Zeitung

Formel 1:Die Halbwertszeit von Plänen

Während die führenden Köpfe des Formel-1-Zirkus grübeln, wann welche Veranstaltung noch nachgeholt werden könnte, verkünden die Organisatoren des für Ende Mai geplanten Grand Prix in Monte Carlo: Das Rennen findet statt!

Von Philipp Schneider, Melbourne

Der Automobile Club de Monaco hat sich längst den Ruf erworben, dass er es nicht nötig hat, bei jedem globalen Trend sofort in der ersten Reihe mitzumarschieren. Das galt schon, bevor ein neuartiges Virus große Teile der Weltgemeinschaft lahmlegte. Es galt schon für jene Debatten, die einem gesellschaftlichen Konsens und nicht einem medizinischen geschuldet waren. Als in der Formel 1 vor zwei Jahren auf dem Höhepunkt der Me-Too-Bewegung die Grid Girls verbannt wurden, also jene teils notdürftig bekleideten Frauen, die Männern mit Nummertäfelchen ihre Startplätze anweisen, da stemmte sich der Kopf des Veranstalters der Hafenrundfahrt mit einer legendären Ansage dem Verbot entgegen: "Warum in aller Welt sollte ich 30 Frauen davon abhalten, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen?" Er hielt sie dann wirklich nicht ab, harrte tapfer aus in seinem Paralleluniversum.

Auch am Dienstag hat der im Jahr 1890 zunächst als Zusammenschluss von Freunden des Fahrradsports gegründete Club eine Mitteilung verschickt, die allen Entwicklungen entgegen zu laufen scheint. Es werde erwartet, dass der für den 27. Mai geplante Grand Prix in Monte Carlo "wie ursprünglich geplant stattfindet", teilte der Club mit. Es wäre ja schön, der Veranstalter aus dem Fürstentum behielte Recht. Doch vier Tage, nachdem die Formel 1 in Melbourne so überstürzt ihre Überseecontainer gepackt hat, dass die Zuschauer bis zwei Stunden vor dem ersten Freien Training vor verschlossenen Toren standen, fehlt der Glaube, dass sich der Planet so schnell vom Virus mit dem sperrigen Namen Sars-CoV-2 erholt haben könnte. Auch wenn die Formel 1, um wirtschaftlich zu überleben, aufs Tempo drückt und angekündigt hat, Ende Mai den Betrieb wieder aufnehmen zu wollen. Oder wie es Ross Brawn, Sportchef der Serie, ausdrückte: "Die Formel 1 muss funktionieren."

Wie überlebensnotwendig dieses Funktionierenmüssen ist, das bewies der unwürdige Verhandlungsmarathon in der Nacht auf Freitag. Stundenlang rangen die Formel-1-Teams mit dem lokalen Veranstalter, dem Automobilweltverband Fia und der Formel 1 darum, ob dieses Rennen noch zu retten sei - obwohl am Vorabend ein Mitarbeiter von McLaren positiv auf die Lungenerkrankung Covid-19 getestet worden war. Niemand wollte dieses Rennen im Alleingang absagen, denn er wäre auf den Kosten sitzen geblieben.

Der lokale Veranstalter in Melbourne, die Australian Grand Prix Corporation (AGPC), zahlt jedes Jahr eine Antrittsgebühr in Höhe von 31,3 Millionen Euro an die Formel-1-Gesellschaft (FOM). Für etwa die Hälfte davon kommt der australische Bundesstaat Victoria auf - also der Steuerzahler. Hätten die Veranstalter das Rennen abgesagt, hätten sie zahlen müssen. Stattdessen blieben sie so lange wie möglich bei ihrer Version, das Rennen werde stattfinden, notfalls ohne Zuschauer, die sich zu dieser Zeit bereits vor den Zäunen und Toren drängten. Die AGPC wusste, dass sich die Mehrheit der Teams dafür entschieden hatte, die Rennwagen lieber in die Überseecontainern zu rollen als auf die Strecke. Um sich rechtlich abzusichern, schrieb die AGPC in einer Pressemitteilung, erst um neun Uhr morgens sei sie "von der Formel 1 über ihre Absicht informiert worden, die Aktivitäten zu streichen".

Die Absage unterzeichneten schließlich AGPC, Fia und FOM gemeinsam. "Wir müssen nun Vieles klären", sagte Paul Little, der Vorsitzende der AGPC - er dachte da vor allem an die Aufteilung der Rechnung. Den genauen Schlüssel müssen sich die drei Parteien gemeinsam mit den Teams überlegen. Das gilt auch für die zunächst abgesagten Rennen in Bahrain und Vietnam, nicht aber für den Rückzug des Rennens in China. Da ist die Haftungsfrage klar: Der Veranstalter selbst hat um eine Verlegung des Rennens gebeten. Sollte sich eine Verschiebung nicht ermöglichen lassen, bleiben die Chinesen sehr viel eher als die Australier auf den Kosten sitzen.

Die Einnahmen der Formel 1 wiederum werden nach einem bestimmten Schlüssel an die Teams verteilt. "Die Teams überleben dank des Preisgelds, das wir ausschütten", stellte Ross Brawn unmissverständlich klar. Lewis Hamilton, der eine Austragung des Rennens schon vor dem positiven Fall bei McLaren heftig kritisiert hatte, fasste diesen Kausalzusammenhang etwas pointierter zusammen: "Cash is king". Und so erklärt sich, warum sich außer Ferrari, Renault, Alfa Romeo, McLaren und später auch Mercedes nicht alle Teams gegen das Rennen aussprachen. Wobei böse Stimmen im Fahrerlager behaupten, Red Bull habe nicht wegen der Aussicht auf das (bei ihnen ohnehin im Überfluss vorhandene) Geld die Motoren anwerfen wollen. Sondern weil sie glauben, dass ihr Auto im Coronajahr 2020 irre konkurrenzfähig ist.

Offiziell sind die Rennen in Bahrain, Vietnam und China nicht komplett abgesagt, sondern nur verschoben. Um Platz für sie zu schaffen, will Brawn auf die knapp vierwöchige Sommerpause im August verzichten. Einige Events könnten zudem von drei auf zwei Tage verkürzt werden. Aber wenn in diesen turbulenten Zeiten eins sicher ist, dann die geringe Halbwertszeit durchdachter Pläne. Vermutlich glaubt nicht einmal Brawn ernsthaft daran, dass in diesem Sommer in Spanien oder Italien überhaupt noch gefahren werden kann - in Ländern, in denen die Bürger gerade nicht einmal mehr vor die Haustüre gehen dürfen.

Was bleibt bis dahin? Die gute Nachricht, dass es dem Mitarbeiter von McLaren besser geht, er symptomfrei ist, wie es so schön heißt. Dazu die schlechte, dass nun ein Mitarbeiter beim Reifenlieferanten Pirelli an Covid-19 erkrankt ist. Und ein offener Brief von Chase Carey, in dem sich der Kopf der Formel 1 entschuldigt für die Rennabsagen (und ein bisschen auch für die skurrilen Umstände in Melbourne). Wann die Formel 1 in diesem Jahr starten wird, verrät Carey darin nicht. Woher sollte er das auch wissen? Über die nötige Weitsicht verfügen wohl nur die weisen Männer eines Automobilclubs in Monaco.

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Quelle:
SZ vom 22.03.2020
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