Wie sehr dieser Crash im Kampf um den Sieg beim Großen Preis von Österreich Lando Norris noch weh tut, wird vier Tage später klar, kurz vor dem Heimspiel in Silverstone. Gleich dreimal sagt der McLaren-Pilot, dessen Rennen unsanft und nach Meinung der Sportkommissare unfair durch den Unfall mit Formel-1-Weltmeister Max Verstappen beendet wurde, dass er dem Gegenspieler vergeben habe: „Er muss sich nicht entschuldigen ... Ich erwarte keine Entschuldigung von ihm ... Ich denke nicht, dass er sich entschuldigen sollte.“ Noch in Spielberg hatte Norris beharrt, dass der Gegenspieler um Verzeihung bitten müsse, damit der gegenseitige Respekt erhalten bliebe. Da ringt jetzt einer um Worte, aber auch um eine Beziehung. Denn zufällig ist der große Gegner auch der beste Freund in der Branche. Wie bloß kann man das bleiben, wenn man so spektakulär aufeinander gekracht ist?
Vier Tage nur, um zu verarbeiten, zu vergessen, was in Kurve drei passiert war. Verstappen, 26 Jahre alt und ganz der abgezockte Champion, versucht alles rein numerisch zu erklären: „Lando hat um seinen zweiten Grand-Prix-Sieg gekämpft, für mich wäre es der 62. gewesen. Da ist doch klar, dass die Emotionen unterschiedlich sind.“ Per SMS haben sich die Rivalen angenähert, schon am Montag. Dann haben sie noch zweimal geredet. „Es war erbärmlich, was passiert ist und dass es große Konsequenzen für uns beide hatte. Wir wollen beide nicht, dass in Zukunft so etwas noch mal passiert. Das Einzige, was nach diesem Wochenende zählt, ist meine Freundschaft mit Lando.“
In der Gesamtwertung trennen Titelverteidiger und Herausforderer kurz vor Halbzeit 81 Punkte, aber mittlerweile sitzt Norris im besseren Auto. Das lässt ahnen, dass es noch zu mehr Rad-an-Rad-Duellen kommt. „Wir machen weiter mit business as usual“, hofft Norris, der zarter besaitet wirkt als Verstappen. Dem Briten gehören vor seinem Heimspiel die Sympathien, Verstappen war nach dem Debakel sieben Runden vor Schluss in Österreich einmal mehr als rücksichtsloser Rüpel gezeichnet, seine Vorgeschichte macht das leicht. Doch er lässt die Kritik an seiner Fahrweise nicht an sich ran: „Darauf gebe ich einen Scheiß. Ich gehe nach Hause und lebe mein Leben.“
Auf der Ideallinie ist nur Platz für einen Rennfahrer
Das klingt ungezogen, es geht aber weniger um die Stilfrage als um den Fahrstil. Erfolgreiche Rennfahrer sind extreme Charaktere, kompromisslos, Verstappen fährt ganz in der Tradition von Senna und Schumacher, und sagt: „Es ist normal, dass wir uns in dem Sport manchmal im Graubereich bewegen. Das machen wir beim Auto so und auch auf der Strecke.“
In jeder Kurve kommt es zum Konflikt. Jeder will der Erste sein, aber auf der Ideallinie ist nur Platz für einen. Ein Dilemma wie im James-Dean-Film „Denn sie wissen nicht, was sie tun“, das jederzeit ähnlich tödlich ausgehen kann. Deshalb muss sich in diesem Grenzbereich in der entscheidenden Tausendstel Sekunde der eine auf die Reaktion des anderen verlassen können. Das wird sich nie theoretisch klären lassen, das muss sich ergeben. Deshalb ist ein Minimum an gegenseitigem Respekt so wichtig. Norris versucht dieses Vertrauen mit einem simplen Glaubenssatz wieder herzustellen: „Max will keinen Unfall bauen, er will ja nicht sein eigenes Rennen zerstören.“ Fürs eigene Vorgehen bedeutet es, dass er die Fahrweise seines Kumpels noch intensiver studieren werde, um die besten Schlüsse zu ziehen. „Die Rollen in jedem einzelnen Bereich müssen klar sein“, sagte er der BBC, „man muss bereit sein, das zu geben, was er einem gibt. So einfach ist das.“ Leicht werde das nicht, „aber ich will es auch nicht leicht“, fügt Norris an.
Wie lange dieser Burgfrieden halten wird, kann keiner sagen. Red-Bull-Teamchef Christian Horner ist sicher, dass sich sein Schützling nicht ändert: „Max ist ein harter Rennfahrer, wahrscheinlich einer der härtesten. Jeder weiß, dass er alles gibt, wenn er gegen ihn fährt.“ Das kann Norris bestätigen: „Max hat eine andere Art zu fahren als andere“, darum sei er Weltmeister.
Zu 99 Prozent seien Norris und er sich einig, wie es zwischen ihnen weitergehe, sagt Verstappen: „Ich habe Lando immer gesagt, wenn du in einem Zweikampf nach innen oder außen gehst, kannst du mir vertrauen, dass ich nicht da bin, um dich aus dem Weg zu räumen. Umgekehrt ist es genauso.“ Er habe nicht übertrieben reagiert. Und weil Rennfahrer eben Rennfahrer sind, kommt es im Zuge der Aufarbeitung zum Schulterschluss quer durchs Feld. Ob Verstappen, Norris, Fernando Alonso oder Kevin Magnussen – alle finden, dass sich die Rennkommissare zu stark einmischen. Deshalb verrät Verstappen auch, was er mit Norris vereinbart habe: „Wir gehen weiter volle Pulle an die Sache heran. Denn das ist das, was wir am liebsten tun. Und das ist auch das Beste für die Formel 1.“