Süddeutsche Zeitung

Grand Prix in Bahrain:Die Formel 1 verneigt sich vor Leclerc

  • Der junge Monegasse Charles Leclerc darf nun endgültig als kommender Spitzenfahrer der Formel 1 gelten.
  • In Bahrain schrammt er nur sehr knapp an seinem ersten Sieg vorbei.
  • Die Anzeichen verdichten sich, dass ihm trotzdem die Zukunft gehören könnte.

Von Philipp Schneider

Die Formel 1 ist ein hektischer, lauter, manchmal nerviger und sehr oft auch undankbarer Betrieb. Meist fahren 20 Fahrer in Spielfilmlänge im Kreis, am Ende klettern die immer gleichen Piloten auf ein Siegertreppchen, spritzen sich gegenseitig mit Schampus voll, und der einzige Unterschied zum Rennen davor ist, dass die Fahrer ihre Position auf dem Treppchen getauscht haben und sich plötzlich in Asien befinden und nicht länger in Europa.

Nur manchmal, ganz, ganz selten, da geschieht etwas so Außergewöhnliches, dass die Formel 1 für einen Augenblick inne hält. Sie muss sich resetten, einen Systemneustart vollziehen, nachdem Teamchefs, Fahrer und Fans alle gemeinsam zu der Erkenntnis gelangt sind, dass es von nun an nicht so weitergehen wird wie vorher. Weil ein neuer Mitspieler aufgetaucht ist, mit dem sich das bewährte Spiel nach den alten Regeln nicht länger spielen lässt. So war es zuletzt im November 2016, als der damals 19 Jahre alte Max Verstappen auf der verregneten Strecke von São Paulo mit seinem Rennwagen über die Pfützen zu schweben schien, in denen die anderen Fahrer zu versinken drohten. Die Geschichte wurde Teil seiner Legende, die Formel 1 verneigte sich vor Verstappen. Wie sie sich nun vor Charles Leclerc verneigt.

Der 21 Jahre alte Monegasse hat sich am Sonntag in Bahrain in seinen Ferrari gesetzt, den er noch nicht allzu lange kennt. Seit einem Rennen erst. Und doch fuhr er allen davon. Er war schneller als die Mercedes von Lewis Hamilton und Valtteri Bottas, er war schneller als sein Teamkollege Sebastian Vettel. Charles Leclerc schwebte nicht über Pfützen wie Verstappen, aber seine Legende ist nicht weniger berichtenswert. Weil ihm der verdiente Sieg bei diesem Rennens auf eine Weise entrissen wurde, als folge es dem Skript eines Zynikers. Auf den letzten elf Runden konnte Leclerc in Führung liegend nur noch tuckern.

"Er hat die grausame Seite des Motorsports kennengelernt"

Warum, darüber rätselten die Ingenieure der Scuderia auch am Montag noch. Einer der Zylinder funktionierte nicht so, wie er sollte, dem Ferrari fehlte die nötige Kraft, etwa 40 km/h auf der Geraden. Leclerc hätte den Belgier Jacky Ickx, der 1968 mit 23 den Großen Preis von Frankreich gewann, als jüngsten Rennsieger im Ferrari ablösen können - doch so wurde er zur leichten Beute der Mercedes. Hamilton rollte vorbei, auch Bottas. Nur weil ein Safety Car ausrückte, schleppte er sich vor Verstappen im Red Bull gerade so aufs Treppchen.

"Er hat die grausame Seite des Motorsports kennengelernt, und es war unser Glück", sagte Toto Wolff, der Teamchef von Mercedes. "Ich stand so kurz davor, mir einen Kindheitstraum zu erfüllen", erzählte Leclerc, dessen Haare und Gesicht der Situation angemessen zerzaust und zerknittert aussahen, nachdem er sich den Helm vom Kopf gezogen hatte: "Hoffentlich wird dieser Tag in der Zukunft kommen." Das dürfte keine Frage, sondern müsste eine Feststellung sein. Leclercs großes Talent, dessen Existenz stets vermutet wurde, darf seit Sonntag als erwiesen gelten. Als "Outlier" bezeichnete Hamilton Leclercs Vorstellung. Als Ausreißer also, als etwas mit hohem Seltenheitswert.

Wie gut ein Rennfahrer ist, lässt sich oft daran erkennen, ob er dazu in der Lage ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Daran, wie er reagiert auf Unvorhergesehenes. Und ob er die Ruhe bewahrt in Krisensituationen. Der Beginn des Rennens war vollgepackt mit Prüfungen für Leclerc.

Vettel hat nun einen Konkurrenten mehr

Von der Pole Position, der ersten seiner jungen Formel-1-Karriere, rollte er los. Sehr, sehr schlecht, mit durchdrehenden Reifen. Vettel zog von Position zwei aus sogleich an ihm vorbei, der Teamkollege fuhr in der ersten Kurve Kampflinie und drängte Leclerc nach außen. In der vierten Kurve wurde Leclerc deshalb noch von Bottas überholt, mit großer Mühe und in höchster Not wehrte er die Attacken von Hamilton ab. Doch anstatt zu resignieren, schlug er mit voller Härte zurück. In der Runde danach erkannte er sofort, dass Bottas die erste Kurve zu weit außen angefahren hatte und zog innen vorbei. Und dann machte der Rookie frech Jagd auf Vettel, einen viermaligen Weltmeister mit der Erfahrung von 220 Rennen. "Ich bin schneller", funkte Leclerc an die Box, um das Offensichtliche in Worte zu packen, ehe er in Runde sechs lässig an Vettel vorbeirollte.

Auch da hätte er die falsche Entscheidung treffen, mit Vettel kollidieren können. "Always a tricky situation", also nicht ganz ohne, seien Duelle mit dem Teamkollegen, referierte Leclerc später fachmännisch: "Ich habe eine Chance auf der Außenseite gesehen und wollte sie nutzen. Es hat sofort funktioniert, also war ich happy damit." Der so beschriebene Grad an Komplexität klang wie: Ich war beim Bäcker und hab' ein leckeres Brötchen gesehen. Sechzig Cent hatte ich dabei, also habe ich es gekauft.

Halb Lob, halb psychologische Kriegsführung

Leclerc hatte die Führung verloren und sogleich wieder zurückerobert. Und nun gab er Gas, fuhr Vettel davon, als säßen sie nicht in baugleichen Autos. Fast vier Zehntelsekunden pro Runde kreiste er schneller als sein Garagennachbar. "Er ist besser mit dem Auto zurechtgekommen", sagte Vettel später fair, "das war deutlich." Elf Runden vor Schluss, als ihn das Zylinderungemach heimsuchte, hatte Leclerc einen komfortablen Puffer von mehr als zehn Sekunden auf Hamilton herausgefahren. Der lag inzwischen auf Position zwei, nachdem er einen Moment ausgenutzt hatte, in dem Vettel in einer Krisensituation einen Fehler beging.

In Runde 38 verlor Vettel beim Versuch, sich der Attacken von Hamilton zu erwehren die Kontrolle über seinen Ferrari, allerdings ohne vorherigen Kontakt. Der Wagen drehte sich um 180 Grad. "Ich war überrascht, als ich das Heck plötzlich verloren habe. Es war mein Fehler. Das muss ich erst mal verdauen", sagte er. Weil er bei dem Manöver einen Reifen beschädigte, musste sein Wagen bei der Weiterfahrt ungewöhnliche Vibrationen verdauen. Der Frontflügel brach, Vettel musste zum Tausch an die Box. Und am Ende eines Rennens, in dem Leclerc bewiesen hatte, dass der Ferrari schneller war als die Mercedes, wurde Vettel Fünfter. Und nun?

"Wir sehen einen jungen Champion, der im Entstehen begriffen ist. Er war der emotionale Sieger", sagte Wolff, der Chef von Vettels Konkurrenten. Das war halb Lob, halb psychologische Kriegsführung. Wolff weiß: Sebastian Vettel hat seit Sonntag einen Konkurrenten mehr. Die Spielregeln sind für alle nun andere.

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Quelle:
SZ vom 02.04.2019/ebc/jki
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