Gut sechs Wochen ist es her, dass Adrian Newey im Podcast High Performance zu Gast war. Mitte September zeichnete sich zwar schon ab, dass das Titelrennen der Formel 1 zunehmend enger werden würde, aber damals ging es noch um die rein sportliche Bewertung, waren die schmutzigen Szenen auf der Rennstrecke und die heftigen Reaktionen darauf nicht absehbar. Oder doch? Newey, der erfolgreichste Rennwagenbauer der Königsklasse, der gerade seinen Wechsel von Red Bull Racing zu Aston Martin verkündet hatte, nahm seinen ehemaligen Schützling Max Verstappen in Schutz: „Ich glaube, Außenstehende verstehen Max nicht ganz. Ähnlich, wie es schon bei Sebastian Vettel der Fall war. Beide wurden manchmal irgendwie dämonisiert, und das ist sehr unfair.“
Jetzt, nachdem bei den letzten beiden WM-Läufen in Texas und Mexiko das Duell zwischen dem Titelverteidiger und seinem Verfolger Lando Norris mehrfach eskaliert ist, wirken die Feststellungen beinahe seherisch. Vor allem den britischen Medien und dem Fernsehsender Sky warf der aus der Grafschaft Warwickshire stammende Newey eine „ziemlich nationalistisch“ geprägte Berichterstattung vor. Tatsächlich verfestigt sich vor dem Großen Preis von São Paulo der Eindruck, dass es nicht mehr nur ein Rennen um einen Titel ist, sondern ein Kampf von Gut gegen Böse. Hier von der Insel der Sportsmann Norris, dort vom Kontinent der unfaire Rüpel Verstappen. Der Niederländer, der sich in der offiziellen Medienrunde einem Kreuzverhör ausgesetzt sah, unkte später im Gespräch mit seinen Landsleuten: „Für dieses Fahrerlager habe ich wohl den falschen Pass.“ Längst wird dieser WM-Kampf grenzenlos emotional geführt.
Formel 1 in Mexiko:Rohe Kräfte hier, rohe Eier da
Das Titelrennen in der Formel 1 spitzt sich zu: Lando Norris macht in Mexiko Punkte gut, Max Verstappen wird bestraft – wohl auch als Ergebnis einer Kampagne des McLaren-Teams gegen die kompromisslose Fahrweise des Weltmeisters.
Ein verbaler Schlagabtausch zweier Titelkandidaten, das funktioniert in der Formel 1 nicht anders als beim Boxen, nur etwas subtiler. Lando Norris, der für seinen Angriff in Austin bestraft worden war, beklagt noch einmal die Attacken von Verstappen in Mexiko-Stadt für die dieser zweimal zehn Strafsekunden aufgebrummt bekam: „Ich habe viel Respekt vor ihm als Person und für das, was er erreicht hat – aber nicht für das, was er vergangene Woche gemacht hat. Max weiß, dass er sich falsch verhalten hat. Es liegt an ihm, sich zu ändern. Er weiß, was er machen kann und was nicht, und wo das Limit liegt.“ Norris und Verstappen galten als gute Kumpel, nach den jüngsten Vorfällen haben sie angeblich nicht mehr miteinander gesprochen. Vier Rennen vor Saisonschluss trennen sie 47 Punkte in der Weltmeisterschaft.
„Ich bin dreimaliger Weltmeister. Ich denke, ich weiß, was ich tue“, sagt Verstappen
Unaufgefordert in den Zeugenstand begab sich als verbaler Beistand zunächst Damon Hill, der Weltmeister von 1996, der zwei Jahre zuvor nach einem missglückten Überholmanöver und einer Kollision das Finale gegen Michael Schumacher verloren hatte. Hill hatte viel Beistand der enttäuschten britischen Journaille bekommen, fortan war der Kerpener gebrandmarkt. Im Fall Verstappen fragt sich der heutige Sky-Analyst, ob der dreifache Weltmeister überhaupt in der Lage sei, fair Rennen zu fahren.
Auch Schumachers ehemaliger Teamkollege Johnny Herbert, der als Rennkommissar in Mexiko die Strafen gegen Verstappen ausgesprochen hatte und in São Paulo wieder im Schnellgericht sitzt, äußerte sich ebenfalls. Für einen neutralen Offiziellen erscheint das merkwürdig. Herbert unterstellte Verstappen eindeutig Absicht bei seinen Manövern. Der 60-Jährige, der sich zuvor als TV-Kommentator verdingte, unterstellt: „Die Strafen in Mexiko werden Max Verstappen nicht davon abhalten, Lando Norris auch in Zukunft von der Strecke zu drücken. Ich sehe nicht, dass sich sein Fahrstil ändern wird.“
Auf die Meinung Einzelner will Verstappen nicht hören: „Keiner kann in meinen Kopf gucken.“
Verstappen versteht den Angriff in der Tat als beste Art der Titelverteidigung: „Ich fahre jetzt seit zehn Jahren in der Formel 1. Ich bin dreimaliger Weltmeister. Ich denke, ich weiß, was ich tue. Manche Leute sind einfach ein wenig voreingenommen.“ Herberts Kritik bezeichnet er als „sehr extremen“ Vorwurf, er sei doch einfach nur hart gefahren. Auf die Meinung Einzelner will der 27-Jährige nicht hören: „Keiner kann in meinen Kopf gucken.“ Verstappen zieht sich schon seit einiger Zeit in den Kreis seiner Vertrauten zurück, er kommentiert öffentlich eher zurückhaltend bis gar nicht. Der Red-Bull-Pilot weiß, dass es diesmal nicht nur um einen Zweikampf geht, es ist mehr ein „Allein gegen alle“ geworden.
Die Fahrergewerkschaft spricht davon, dass 19 von 20 Fahrern für eine Klarifizierung der aktuellen Regeln seien, bei Sebastian Vettels Umweltaktion am Donnerstag im Autodromo Carlos Pace fehlten nur die Red-Bull-Angestellten. Da werden Fronten aufgebaut. „Ich erwarte, dass die Duelle jetzt sauberer werden als zuletzt. Das liegt aber nicht an mir“, sagt Lando Norris. Als ob der 24-Jährige eine Kampagne als Gutmensch betreibt, betont er, sich in seiner Karriere immer aus Ärger herausgehalten zu haben: „Da war ich vielleicht in manchen Fällen zu freundlich und habe dann den Preis dafür bezahlt, dass ich nicht aggressiv genug war.“ Tatsächlich fehlte es dem McLaren-Fahrer in dieser Saison in vielen Situationen am Durchsetzungsvermögen, schon am Start hat er viele Siegchancen eingebüßt.
Die Rechtsprechung in kniffligen Überholsituationen soll Anfang Dezember in Katar zwischen Fahrern und Automobilweltverband Fia neu beraten werden. Allerdings sind auch die momentan gültigen und umstrittenen Grundregeln über das Verhalten in Kurven mit Zustimmung der Piloten aufgestellt worden. Um einen flüssigeren Rennverlauf zu bekommen, gibt es kaum noch Kiesbetten, sondern mehr asphaltierte Auslaufzonen. Die werden von vielen Fahrern missbraucht, um andere abzudrängen. Für Rekordweltmeister Lewis Hamilton liegt darin das Hauptproblem.
Ob neue Sportgesetze viel nützen, ist umstritten. Denn dabei gilt es abzuwägen, wessen Interessen stärker zum Tragen kommen – die des Angreifenden oder des Verteidigenden. Überraschungsangriffe und Rad-an-Rad-Duelle machen den Reiz des Motorsports aus. Spätbremser Verstappen operiert meist von innen heraus, mit dem Argument, dass er am Scheitelpunkt vorn gelegen habe, und ihm deshalb die Kurve gehöre. Das Regelbuch werde ohnehin schon Jahr für Jahr dicker. Zweikämpfe in der Formel 1 wie eine Steuererklärung zu regeln, ist eine Illusion. Es bleibt ein Risikosport.