Formel 1:Es knallt beim Treffen der Teamchefs

Formel 1: Mercedes-Teamchef Toto Wolff 2022 in Kanada

Toto Wolff ist beim Treffen der Teamchefs in Kanada sehr laut geworden.

(Foto: Jim Watson/AFP)

Während Max Verstappen seine Gesamtführung in der Formel 1 zementiert, erhitzt das Bouncing-Problem die Gemüter. Mercedes-Chef Toto Wolff und sein Red-Bull-Kollege geraten aneinander.

Von Philipp Schneider

Der Circuit Gilles Villeneuve auf der Île Notre-Dame in Montréal ist eine Rennstrecke, an die sehr viele Piloten die mannigfaltigsten Erinnerungen haben. Gute und fürchterliche. Die Geraden sind dort lang und gesäumt von dicken Mauern nahe an der Piste. Mutige Piloten flirten mit der Gefahr und lassen ihre Reifen an einigen Stellen den Beton berühren. Geht es gut, sind sie die Helden. Geht es schief, sehen sie aus wie Fahranfänger.

Lewis Hamilton war auch mal ein Rookie in der Formel 1. Fast auf den Tag 15 Jahre war es am Sonntag her, dass er als Pilot an diese tückische Strecke reiste, die er zuvor tatsächlich noch nie befahren hatte. Im Juni 2007 war Hamilton bei McLaren ein 22-jähriges Talent an der Seite des drei Jahre älteren, zweimaligen Weltmeisters Fernando Alonso. Aber dann, an seinem sechsten Rennwochenende legte der Lehrling in Montréal bereits seine Meisterprüfung ab. Nachdem er am Samstag seine erste Pole-Position erobert hatte, gelang ihm tags darauf sein erster Rennsieg in der Formel 1. In einem denkwürdigen Grand Prix, in dem der erfahrene Alonso mehr schlingerte als der Neuling Hamilton. Ganz schön viel Stoff für Erinnerungen also.

"Ich bin wieder jung", frohlockt Hamilton in Montréal

Und auf diese hob Hamilton am Sonntag auch ab, als er in Kanada leichten Fußes als Drittplatzierter aus seinem Mercedes federte und plauderte: "Ich habe das heute nicht erwartet. Es ist mein zweites Podium in diesem Jahr. Das fühlt sich wirklich besonders an, ganz besonders hier. Ich liebe es in Montréal!"

All right, aber der Rücken?

"Er ist gut. Ich bin wieder jung!", rief Hamilton.

Formel 1: Da ist er wieder: Lewis Hamilton (hinten, mit dem Zweiten Carlos Sainz) freute sich über Platz drei in Kanada fast so sehr wie über seinen ersten Rennsieg in der Formel 1 an gleicher Stelle.

Da ist er wieder: Lewis Hamilton (hinten, mit dem Zweiten Carlos Sainz) freute sich über Platz drei in Kanada fast so sehr wie über seinen ersten Rennsieg in der Formel 1 an gleicher Stelle.

(Foto: Jim Watson/AFP)

Längsschnitte durch die Geschichte, also der Vergleich ähnlicher Situationen zu unterschiedlichen Zeitpunkten, faszinieren die Historiker seit jeher. Im Falle von Hamilton war am Sonntag nicht nur die 15-Jahre-Parallele spannend, sondern auch die Sieben-Tage-Entsprechung. Wer die beiden Bilder nebeneinanderlegte, auf denen Hamilton aus seinem Rennwagen kletterte, erst in Baku, nun in Montréal, der fühlte sich, als wäre er Augenzeuge einer Wunderheilung.

In Aserbaidschan benötigte Hamilton nach der Achterbahnfahrt in seinem hüpfenden Silberpfeil eine gefühlte Ewigkeit, um aus dem Cockpit zu klettern, auf dem Weg in die Box wurde er gestützt. In Kanada lief er beschwingt und gut gelaunt zu seiner erst zweiten Champagner-Feier in diesem Jahr, und man benötigte keine Röntgenaufnahmen, um zu erkennen, dass seine Wirbelsäule diesmal weniger Erschütterungen ausgesetzt worden war als eine Woche zuvor. Mercedes hatte in Montréal nicht nur das als bouncing bekannte Phänomen besser im Griff als in Baku. Die Silberpfeile hatten auch insofern Grund zu gehobener Laune, als zusätzlich George Russell mit seinem vierten Platz den Eindruck bestätigte, dass sich das Team wieder näher herangeschoben hat an die seit Saisonbeginn enteilten Rivalen Red Bull und Ferrari.

Mercedes will nun statt der Gesamtwertung einzelne Rennen gewinnen

"Wir müssen happy sein. Wir haben das auf der Bahn rausgefahren. Das ist okay", betonte Mercedes-Teamchef Toto Wolff, sagte aber auch: "Wir müssen aufpassen. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer." Helmut Marko, der weder als Ornithologe noch als Freund von Sinnsprüchen bekannte Motorsportberater von Red Bull, packte eine ähnliche Beobachtung in eine schlichte Warnung: "Mercedes hat massiv aufgeholt." Um gleichwohl jeglicher unberechtigter Vorfreude in der Anhängerschaft bei Mercedes vorzubeugen, stellte Wolff klar, im Titelkampf sei "der Zug schon lange abgefahren". Ziel sei es aber, noch Rennen zu gewinnen: "Und ich glaube, das können wir schaffen."

Formel 1: Bedenken wegen der unsicheren Fahrlage der Autos: George Russell, Pilotensprecher und Vierter beim Grand Prix von Kanada.

Bedenken wegen der unsicheren Fahrlage der Autos: George Russell, Pilotensprecher und Vierter beim Grand Prix von Kanada.

(Foto: Imago/HochZwei/Imago/HochZwei)

Nun ruft der Blick auf den WM-Stand beim neutralen Beobachter in der Tat Ernüchterung hervor. Der Führende Max Verstappen ist nach seinem bereits sechsten Sieg schon bis auf 46 Punkte enteilt. Dass es sich beim Zweiten um seinen Teamkollegen Sergio Pérez handelt, der drei Zähler mehr gesammelt hat als Charles Leclerc im Ferrari, lässt den Wettbewerb nicht gerade vor Spannung übersprudeln.

Tatsächlich aber verfügte die Scuderia, die sich in den drei Rennen zuvor mit technischen Pannen und eklatanten strategischen Fehlentscheidungen selbst um die Punkte gebracht hatte, auch am Sonntag wieder über die schnellsten Fahrzeuge im Feld. Der wegen mannigfaltiger getauschter Teile an seinem Motor in die letzte Startreihe strafversetzte Leclerc raste zumindest noch vor auf Platz fünf. Und sein Teamkollege Carlos Sainz, der dank einer Safety-Car-Phase kurz vor Schluss den Spitzenreiter Verstappen plötzlich wieder vor sich hatte, er kämpfte sich auf frischeren Reifen durch die Luftwirbel immer wieder dicht an den Niederländer heran.

Die heftigste Schlacht wurde aber nicht auf der Strecke ausgetragen, sondern hinter verschlossenen Türen beim Treffen der Teamchefs. Obwohl sie sich ja in diesem Jahr nicht länger um die relevanten Pokale balgen, gerieten Mercedes-Boss Wolff und Red-Bull-Teamchef Christian Horner in der Frage des weiteren Vorgehens in Sachen bouncing aneinander. Und zwar genau deshalb. Offensichtlich sorgt sich Red Bull, dass die Silberpfeile, die nach wie vor am stärksten unter dem unaufhörlichen Hoppeln der Autos leiden, schon bald wieder um Siege mitfahren könnten, sollte der Automobilweltverband Fia Nachbesserungen an der Aerodynamik der Autos vornehmen, die bislang Red Bull und Ferrari am besten im Griff haben.

Pilotensprecher Russell befürchtet, ein schwerer Zwischenfall sei "nur eine Frage der Zeit"

Bei dem Treffen am Samstag soll Wolff sehr laut geworden sein, als er im Sinne der Gesundheit der Fahrer argumentierte, die mit einem offiziellen Protest eine Untersuchung der Fia überhaupt erst angestoßen hatten. Russell, Sprecher der Gemeinschaft aller 20 Piloten, hatte gesagt, es sei "nur eine Frage der Zeit, bis wir einen schweren Zwischenfall sehen werden. Viele von uns können ihr Auto doch kaum auf einer geraden Linie halten."

Horner jedoch wollte auf dem Treffen von gesundheitlichen Bedenken nichts wissen. Stattdessen soll er seinen Kollegen bei Mercedes einmal mehr den schlangenzüngigen Ratschlag erteilt haben, sie sollten ihre Autos höher legen, um das permanente Aufsetzen der Boliden abzustellen, was die Silberpfeile freilich weiter bremsen würde. Wolff brachte das in Rage. "Es gibt Kollegen, die versuchen, das Gesagte zu manipulieren, um den Wettbewerbsvorteil zu behalten und die politische Spiele spielen", sagte er anschließend. Das sei "erbärmlich" und "hinterhältig".

Tatsächlich hatte die Fia auf den Vorstoß der Fahrer unüblich schnell reagiert und bereits für das vergangene Rennwochenende Messungen der Fahrzeugschwingungen angeordnet. Welche Folgen diese Untersuchung und mögliche Gegenmaßnahmen auf den Titelkampf haben werden, das ist in Zeiten einer wie zementiert wirkenden Führung Verstappens in der Gesamtwertung eine spannende Frage.

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