Die Stunde der großen Geste fängt mit dem kleinen Finger an. Lando Norris und sein Kollege Oscar Piastri, deren interne Rangordnung für den Schlussspurt der Formel-1-Saison klargestellt worden ist, blödeln in ihren fröhlichen orangefarbenen Teamhemden für die Kameraleute herum. Aber statt den in Rennfahrerkreisen üblichen Daumen zur Verstärkung des eigenen Anspruchs zu zeigen, recken sie nur das äußerste Glied der Hand – aus der Ferne wirkt es so, als wollten beide Kontrahenten Fingerhakeln. Was ziemlich genau demonstrieren würde, wie der derzeit überlegene Rennstall der Königsklasse seine hehre Kultur hochhalten und zugleich alles dem Erfolg unterordnen will. Das böse Wort, um das es vor dem Großen Preis von Aserbaidschan an diesem Wochenende geht, lautet: Stallorder.
Die spektakulärste Szene beim vergangenen Rennen in Monza war jene gleich nach dem Start, als sich Piastri auf rüde Weise an Norris vorbeidrängte und beide haarscharf an einem Crash vorbeischrammten. Der Australier kam vor dem Briten ins Ziel, und nahm dem Rivalen damit zum wiederholten Mal wichtige Punkte weg. Red-Bull-Berater Helmut Marko frohlockte hämisch über die interne Rivalität beim Gegner: „Wir begrüßen diese sportliche Vorgehensweise ...“
Denn Lando Norris ist der in der WM-Wertung besser platzierte McLaren-Fahrer. Er glaubt kraft seines überlegenen Autos daran, in den letzten acht Rennen noch die 62 Punkte Rückstand auf den strauchelnden Titelverteidiger Max Verstappen wettmachen zu können. Er muss dazu im Schnitt aber acht Punkte pro Rennen mehr holen als der Niederländer. Da kann er keinen Teamkollegen brauchen, der ihm wichtige Zähler wegschnappt. In der hoch dotierten Konstrukteurswertung kann McLaren bei nur acht Zählern Unterschied zu Red Bull Racing sogar schon in Baku die Führung übernehmen. Aber dazu braucht es auch die Punkte von Piastri, weshalb der besonnene Teamchef Andrea Stella seit anderthalb Wochen um einen Kompromiss ringt, mit dem er den einen bevorzugen kann, ohne den anderen zu demoralisieren.
Wie es aussieht, ist Piastri der Klügere – er gibt wohl nach
Die Grand-Prix-Geschichte ist voll von Eskalationen rund um die Stallregie, Stella selbst als ehemaliger Ferrari-Ingenieur zu Schumachers Zeiten war darin verwickelt. Seine heutige Situation ist aber weit komplizierter. Der Rekordweltmeister war seinem Adjutanten Rubens Barrichello weit überlegen, Norris und Piastri aber besitzen bei ähnlich hohem Ehrgeiz und Talent gleichermaßen alle Chancen auf eine große Zukunft. Das ist Fluch und Segen für den wieder zum Leben erweckten Dinosaurier McLaren. In den zurückliegenden fünf Rennen kamen beide jeweils auf 85 Punkte, Piastri aber liegt in der Gesamtwertung als WM-Vierter 44 Zähler hinter Norris. Klarer Fall, und trotzdem hat Stella zehn Tage mit sich gerungen.
Schließlich wurde die interne Gesetzgebung – analog zu den orangen Teamfarben „papaya rules“ getauft – umgeschrieben. In der Neufassung lauten die wichtigsten Paragrafen: „Erstens wollen wir sicherstellen, dass nichts, was auf der Strecke passiert, dem Team schadet. Zweitens wollen wir beide WM-Titel gewinnen. Und drittens wollen wir die Ziele erreichen, ohne rücksichtslos vorzugehen.“ Das impliziert die Schützenhilfe, die Piastri zu leisten hat. Wie genau das auf der Strecke aussehen soll, bleibt zunächst im Vagen. McLaren hat einen Spagat gemacht, aber der Zwiespalt bleibt.
Andrea Stella, der große Harmoniker im Fahrerlager, hat den 23 Jahre alten Piastri allerdings schon konkret gefragt, ober er bereit sei, einen Sieg aufzugeben: „Er hat geantwortet, dass es für ihn schmerzhaft wäre, er es aber für das Team machen würde.“ Der Boss wertete das als Teamgeist und große Reife. Piastri argumentiert seine Zustimmung so: „Es geht auch gar nicht so sehr darum, dass ich für Lando zur Seite fahre. So will er das auch gar nicht. Es geht mehr darum, den Fahrer zu belohnen, der an einem Rennwochenende den besseren Job gemacht hat. Es ist uns wichtig, dass das Vertrauen und der Respekt nicht verloren gehen.“
Natürlich wissen sie alle um die Widersprüche, die die schöne Theorie birgt. Lando Norris, der zuletzt noch für eine Bevorzugung lobbyiert hatte („Uns läuft langsam die Zeit davon ...“), bekommt fast schon wieder ein schlechtes Gewissen: „Ich will keine Almosen und keinen geschenkten Titel. Ich will durch Kampf gewinnen.“ Es ist zu spüren, dass die Situation, die bisher im Rausch des rasanten sportlichen Aufstiegs einigermaßen unter Kontrolle war, auch für die Fahrer zum Dilemma geworden war. Die Stallorder könnte tatsächlich Abhilfe schaffen. Vom Reglement ist der Eingriff ausdrücklich nicht untersagt, weil die Formel 1 entgegen der breiten Wahrnehmung ein Mannschaftssport und keine Solo-Vorstellung ist.
Oscar Piastri hat dementsprechend eingelenkt: „Es ist schmerzhaft, aber wenn es das Richtige ist, dann werde ich es tun. Mir ist klar, dass es hier um viel mehr geht als nur um mich selbst.“ Er weiß, dass er dafür einen moralischen Bonus hat, einen finanziellen vermutlich auch – und im kommenden Jahr könnte es genauso gut andersherum laufen. Es geht immer um die Rennfahrerehre, aber natürlich auch ums Kalkül.