Formel 1 in Austin:Die Mental-Weltmeisterschaft ist in vollem Gange

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Lando Norris hält sich gerade an das Motto: Bloß niemanden an sich heranlassen, einfach so tun, als ob einem der Trubel nichts ausmache. Mit Cowboyhut gelingt ihm das vor dem Grand Prix in Austin ganz gut. (Foto: Memmler/Eibner/Imago)

Sein McLaren ist den anderen derzeit überlegen – doch er ist trotzdem nervös: Lando Norris muss beim Rennen in den USA als Pokerspieler ran, eine Rolle, die ihm im WM-Endspurt mit Max Verstappen eigentlich nicht liegt.

Von Elmar Brümmer, Austin

Manchmal vergisst Lando Norris glatt, ordentlich zu essen an einem Grand-Prix-Wochenende – oder genügend zu trinken während des Rennens. Dass der Brite nervös ist, obwohl er zuletzt das allen überlegene Auto der Formel 1 steuerte, hat vermutlich nichts mit dem zugespitzten Kampf um den WM-Titel zu tun. Der McLaren-Pilot ist nach Darstellung seines Teamchefs Andrea Stella einer, „der das Glas immer halbleer“ sehe. Vor der nun beendeten vierwöchigen Pause hätte er auf den Straßen von Singapur dreimal fast einen halbminütigen Vorsprung weggeworfen. Von den vielen auf der Strecke verlorenen Pole-Positionen über die Saison hinweg mal ganz abgesehen.

Der 24-Jährige ist ein Unruheherd in eigener Sache, das muss gar nichts Schlechtes sein. Immerhin hat er seit seinem allerersten Sieg in Miami noch zwei weitere Grand Prix gewonnen. Und er hat sechs Stopps vor Saisonende noch 52 Punkte Rückstand auf Titelverteidiger Max Verstappen, beinahe genauso viele wie damals im Mai. Nur, dass der Red-Bull-Rennwagen seither mächtig ins Straucheln geraten ist, McLaren das Momentum besitzt und Stella seiner Nummer eins deshalb gebetsmühlenartig ins Gewissen redet: „Die Chance ist da.“ Doch Norris schwächt schon wieder ab: „Auch ohne Titelgewinn wäre diese Saison ein Erfolg für mich, ich kämpfe schließlich gegen die Besten der Besten.“

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Weltmeister Max Verstappen kennt seine Ausnahmestellung und will sich von Mohammed Ben Sulayem, Chef des Automobilweltverbands Fia, nicht entmündigen lassen. Angeblich nähme er auch einen Rücktritt in Kauf.

Von Elmar Brümmer

Austin ist ein Vorentscheid, ein Gradmesser. Einerseits, wie es um die technischen Upgrades bestellt ist, aber wichtiger noch, wer der beiden der bessere Pokerspieler ist. In der Medienrunde vor dem Großen Preis der USA diesen Sonntag gibt sich der Brite verzweifelt entspannt. Haltung und Mimik auf dem Sofa signalisieren, dass er am liebsten in Ruhe gelassen würde. Bei noch maximal 180 zu holenden Punkten müssen die Konstitution des Autos, mehr aber noch die Konzentration und Kondition des Fahrers tadellos sein.

Ein Fehler, und alles kann gelaufen sein. Schon das harmlose Ansinnen, ob er nach der kurzen Pause im Kalender immer noch die gleiche Zuversicht wie beim Triumph in Singapur verspürt, beantwortet er mit einem langgezogenen „Ääääh“, dem ein zögerliches „Ja“ folgt. Die Frage nach seinem großen Rivalen, der dazu fatalerweise noch sein bester Kumpel ist, beantwortet Norris so betont distanziert, dass dahinter eine andere Wahrheit zu fühlen ist: „Ich gucke auf alle Fahrer, aber was Max macht, hat nichts mit mir zu tun.“ Bloß niemanden an sich heranlassen, einfach so tun, als ob einem der Trubel nichts ausmache.

Im Vorjahr in Austin stand Max Verstappen schon als Champion fest – nun muss er noch kämpfen

Was Norris wohl denkt, wenn er die bei Red Bull seit Jahren einstudierten Psychospielchen beobachtet? Wenn Helmut Marko als Berater des Gegners kaum verklausuliert über vermeintliche mentale Schwächen des WM-Zweiten spricht, wenn Verstappen zur Stallregie zu Ungunsten des zweiten McLaren-Piloten Oscar Piastri sagt, dass der Australier viel zu gut sei für solche Spielchen und er selbst so etwas nie akzeptieren würde. Es sind eindeutige Zeichen, dass die Mental-Weltmeisterschaft in vollem Gange ist.

Am Ende seines wenig ergiebigen Small Talks am Circuit of the Americas sagt Norris dann in einem tapferen Nebensatz: „Das könnte tatsächlich unser Jahr werden.“ Wie alle anderen musste er unter einem Banner hindurch ins Fahrerlager, auf dem ein Zitat von John Lennon prangt: „Am Ende wird alles in Ordnung sein. Und wenn es nicht okay ist, dann ist es nicht das Ende.“

Der Sinnspruch umschreibt gut, was Norris momentan ausstrahlt, auch wenn er auf der Piste eine ganz andere Persönlichkeit an den Tag legen kann. Verstappen dürfte den Sinnspruch mit einem müden Grinsen quittiert haben. Dem Niederländer ist auf und neben der Strecke in dieser Saison so viel gegen den Strich gegangen, dass seine immer noch deutliche Führung zu diesem Zeitpunkt des Rennjahres wie ein Wunder anmutet – und vor allem der überdurchschnittlichen eigenen Leistung geschuldet ist. Im Vorjahr in Austin stand der 27-Jährige schon als Champion fest, den Titel hatte er sich 2023 in Katar gesichert und gewann locker die abschließenden sechs Rennen.

Größtmögliche Gelassenheit in Austin: Max Verstappen wirkt zehn Jahre nach seinem Formel-1-Debüt gerade auf provokative Art souverän. (Foto: Mark Thompson/Getty Images via AFP)

Wenn er nun verzweifelt sein sollte, lässt er sich das nicht anmerken. Gerade herrscht Hochsaison für Pokerspieler. Dass der Automobilweltverband FIA die Höhenverstellung am Fahrzeugunterboden des RB 20 verboten hat, tut er als kaum entscheidendes Detail ab, McLaren sei ja auch der zu flexible Heckfügel verboten worden. Viel hängt jetzt davon ab, wer aus den technischen Upgrades mehr herausholen kann.

Mit größtmöglicher Gelassenheit verlässt der siebenfache Saisonsieger zu seiner Medienrunde das dafür vorgesehene Gatter und damit den Hoheitsbereich des Weltverbands, der ihn in Singapur für ein Schimpfwort bestraft hatte. Verstappen wirkt zehn Jahre nach seinem Formel-1-Debüt gerade auf provokative Art souverän. Vielleicht auch, weil er spürt, dass eine Titelverteidigung mit dem schlechteren Auto das größtmögliche Meisterstück wäre. Seine Gesichtszüge sind über diese schwierige Saison hinweg markanter geworden, dem entspricht auch sein Auftreten. Er steht nach drei WM-Gesamtsiegen vor einer ungeheuren Herausforderung, der er mit Pragmatismus begegnet.

Seit Juni nicht mehr gewonnen zu haben, in den vier vorherigen Rennen nicht mehr vor Gegenspieler Norris im Ziel gewesen zu sein, das versucht Verstappen zur Lappalie klein zu denken nach dem Motto: Nicht mit zu vielen Gedanken belasten, was die erfolgreiche Titelverteidigung angeht. „Wenn die Verbesserungen an unserem Auto einschlagen, bin ich guten Mutes. Bringen sie nicht so viel wie erhofft, wird es für uns ziemlich schwierig“, sagt er. Die Chancen auf seinen vierten Titel schätzt der Niederländer auf 50:50 ein und führt dazu lakonisch aus: „Es gibt keine Garantie in die eine oder in die andere Richtung, entweder schaffe ich es oder eben nicht. Wenn es nicht klappt, wird sich mein Leben nicht ändern. Denn es besteht nicht immer nur aus Siegen und Weltmeistertiteln.“ Das klingt eher nach einem halbvollen Glas.

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