Es war das Duell, das die Fantasien der Formel 1 seit Wochen beflügelte, und plötzlich wurde es wahr: Drei Runden vor Schluss des Großen Preises von Aserbaidschan saugte sich der WM-Herausforderer Lando Norris im McLaren an den vor ihm liegenden Red-Bull-Rennwagen von Max Verstappen heran, kraft Windschattens und mehr Leistung zog er locker vorbei. Im Rennen ging es zu diesem Zeitpunkt zwar nur um den sechsten Platz, aber es war ein weiteres Zeichen, dass diese bislang schon ultraspannende Formel-1-Saison ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat. Der Überschuss, den Norris gerade hat, drückte sich auch darin aus, dass der Brite vom 15. Startplatz aus ins Rennen gegangen war, Verstappen vom sechsten Rang. Am Ende war Norris Vierter in Baku, Verstappen Fünfter. Entscheidend aber ist die Auswirkung auf den Gesamtstand: Norris hat wieder drei Zähler abgeknabbert und liegt noch 59 Punkte zurück. Bei noch sieben ausstehenden Rennen gibt es maximal 206 Zähler zu gewinnen.
Ach so, einen Gewinner gab es natürlich auch am Kaspischen Meer – und was für einen. Der Australier Oscar Piastri, der eigentlich seit dieser Woche zur Schützenhilfe für Lando Norris abgestellt ist, machte aus seiner zweiten Startposition seinen zweiten ersten Platz der Saison. Ziemlich abgezockt, wie er in seinem entscheidenden Rennmanöver in der 20. von 51 Runden aus dem Nichts am Spitzenreiter Charles Leclerc vorbeischoss und extrem spät in die Kurve bremste. Leclerc hatte sich überrumpeln lassen. Der Monegasse ist schon vier Mal in Baku aus der Pole-Position gestartet, gewonnen hat er nie.
Irrsinniges Manöver von Sainz gegen Pérez endet mit Crash
Rundenlang jagte Leclerc Piastri in der Schlussphase, war immer nah dran, aber nie nah genug. Der Ferrari war in den Kurven schneller, der McLaren am Ende der Geraden. Zwei Runden vor Schluss versagten ihm die Hinterreifen den Dienst, er musste abreißen lassen. Ein Rennen, das von seiner subtilen Spannung gelebt hatte, eskalierte. Sergio Pérez im Red-Bull-Honda setzte an, sich Leclerc zu schnappen. Aber auch der zweite Ferrari von Carlos Sainz nutzte den Windschatten, um zum lahmenden Teamkollegen aufzuschließen. Die beiden Verfolger jagten jetzt Seite an Seite die Geraden entlang, die Sonne stand tief. Sainz, rechts außen, zog plötzlich immer weiter nach links. Da waren Pérez – und die Reifenstapel. Die Hoffnung beider zerschellte nach diesem irrsinnigen Manöver, George Russell im an diesem Wochenende indiskutablen Silberpfeil staubte den dritten Podiumsplatz hinter Piastri und Leclerc ab.
Folgen haben die neuerliche Machtdemonstration von McLaren und die anhaltende Red-Bull-Zickigkeit für die Konstrukteursweltmeisterschaft – erstmals hat der Herausforderer die Führung in der Geldwertung übernommen, und das gleich mit 20 Zählern. Alles trotz der äußerst unglücklichen Ausgangsposition von Norris. Der McLaren-Pilot begründete sein Ausscheiden in der ersten Qualifikationsrunde mit einem falschen Flaggensignal. Die Wahrheit aber ist, dass er zuvor schon zu weit über die Randsteine geräubert war. Alles auf eine Karte gesetzt, einen Tiefschlag bekommen. Da war es wieder, sein aus zahlreichen verpatzten Startmanövern bekanntes Alter Ego namens Lando Nervous.
Eine ähnliche Nervosität kennt nur Charles Leclerc, wenn er ganz vorn losfahren muss. Der Monegasse kam diesmal gut weg, hängte früh Oscar Piastri ab. Der Australier im zweiten McLaren hatte sich mehr oder weniger freiwillig der Teamräson gefügt, im Falle des Falles alles für die Chancen von WM-Kandidat Norris zu tun, was sich in Baku allerdings schon vorher erledigt hatte.
Max Verstappen hatte nach den letzten Pleiten die Ingenieure von Red Bull Racing aufgefordert, seinen als „Monster“ bezeichneten Rennwagen endlich zu zähmen. Aber die Experimente am rasenden Objekt brachten nicht die gewünschte Besserung. Verstappen hatte erstmals seit 33 Rennqualifikationen das Nachsehen gegenüber seinem Teamkollegen Sergio Pérez. Der Mexikaner, der zur hundertprozentigen Schützenhilfe für den Niederländer verdammt ist, fuhr als Vierter los und damit seinem Vorgesetzten direkt vor der Nase herum.
Das Heck mache, was es wolle, klagte Verstappen im Cockpit
Vertauschte Ausgangsbedingungen, und so kam es nach den ersten Boxenstopps zu Szenen, in denen der aufgerückte Norris für Piastri blockte. Pérez versuchte verzweifelt, in den Kampf einzugreifen, aber einmal mehr wurde deutlich, warum er nur eine Nummer zwei ist. Ihm fehlt das Durchsetzungsvermögen, was aber auch am Auto liegen kann. Dennoch: Erneut gab es in Aserbaidschan einen Dreikampf um die Spitze. Das Prädikat der spannendsten Saison trägt dieses Rennjahr seit Längerem schon.
Alles eine Frage der dauerhaften Konzentration: Erst lauern durch die enge Altstadt, dann Schwung holen mit Tempo 330 auf der langen Geraden und volle Attacke in den nächsten Winkel. Vorgelebt von Oscar Piastri, der alles unter Kontrolle hatte. „Schön dranbleiben“, riet die Ferrari-Box Leclerc. Auch Norris wurde bei seinem Dauerlauf ermuntert: „Das ist deine Zeit!“ Der einzige Misston in all den Motivationsvorträgen kam weiter hinten, aus dem Cockpit von Verstappen. Der Spitzenreiter klagte darüber, dass das Heck mache, was es wolle, und sein Auto nur so vor sich hin hüpfe. Die Misere des einst siegenden Holländers geht weiter. Fortsetzung kommendes Wochenende in der Innenstadt von Singapur – seiner Angststrecke.