Süddeutsche Zeitung

Technische Revolution in der Formel 1:Es geht ums Spektakel fürs Volk

In der kommenden Saison werden die Autos der F1 kaum wiederzuerkennen sein. Die Rennserie hat deren Aerodynamik so verändert, dass sie sich auf der Strecke dichter folgen können.

Von Jürgen Schmieder und Philipp Schneider

Braucht die Formel 1 nervenaufreibendere Rennen? Nein, könnte man meinen. Ist doch das gerade erst in Abu Dhabi aufgeführte Duell zwischen Lewis Hamilton und Max Verstappen so eng geführt worden, dass der siebenmalige Weltmeister aus England noch eine Weile benötigen wird, um seine Niederlage zu verarbeiten. Seither ist er abgetaucht, hat die Saison-Abschlussgala geschwänzt, und Mercedes-Teamchef Toto Wolff hat explizit nicht ausschließen wollen, dass sein schnellster Chauffeur in diesem Winter seine Karriere beenden wird.

Andererseits liegt Hamiltons schlechte Laune bekanntlich allein an der windschiefen Safety-Car-Steuerung in den letzten zwei Runden des letzten Rennens. Gegen bessere Action und mehr Rad-an-Rad-Duelle auf der Strecke hat er sicher nichts einzuwenden. Und so wäre es jedenfalls zu bedauern, sollte Hamilton in keinem der Flitzer der anstehenden Saison Platz nehmen, deren Entwicklung ohne Übertreibung eine technische Revolution bedeutet.

Aggressiver und anarchischer sollten die Autos aussehen

Mit zwei Prämissen hat sich die Rennserie nach ihrer Übernahme durch den amerikanischen Unterhaltungskonzern Liberty Media 2017 auf die Ausarbeitung eines neuen technischen Reglements gestürzt; eigentlich sollte es 2020 eingeführt werden, wegen der Pandemie wurde es jedoch um zwölf Monate verschoben: Die Autos sollen aggressiver und anarchischer aussehen. Und sie sollen sich auf der Strecke dichter folgen können, was im Idealfall zu mehr Zweikämpfen und mehr Überholmanövern führt.

Es geht also, und das ist wichtig, bei diesem neuen Auto keineswegs primär darum, den Sport sicherer oder gar umweltfreundlicher zu machen - denn das geschieht erst 2026 mit der Einführung von Motoren, die vollumfänglich klimaneutral betrieben werden sollen. Im kommenden Jahr geht es zunächst einmal ums Spektakel fürs Volk. Und sie machen daraus überhaupt keinen Hehl.

Rob Smedley, Datenchef der Formel, sagt das ganz offen: "Wir sind gleichermaßen Sport und Entertainment, und eine Analyse vor Jahren hat gezeigt, dass die Leute durch die Bank engere Rennen wollen. Die legendären Momente der Formel 1 sind doch jene, wenn gefahren wird, wenn sich zwei auf der Strecke duellieren." Also: Dijon 1979, Gilles Villeneuve gegen René Arnoux. Das wahnwitzige Manöver von Mika Häkkinen 2000 in Spa, als er gleichzeitig Michael Schumacher überholte und Ricardo Zonta überrundete. Feinste Überholmanöver also, die nicht einmal künstlich eingeleitet werden mussten mit Hilfe eines Safety Cars wie jüngst in Abu Dhabi.

"Die Veränderungen sind massiv", sagt der Datenchef der Rennserie

"Die Veränderungen sind massiv", sagt Smedley, und es ist wichtig, dass er das auf der Technikmesse ReInvent in Las Vegas tut; denn es wäre noch vor ein paar Jahren völlig unmöglich gewesen, die Regeln in dieser Geschwindigkeit zu entwickeln - und dann ein rundum neues Auto. Vereinfacht ausgedrückt: Die Hersteller sind zu gut, sie haben aerodynamisch nahezu perfekte Rennfahrzeuge gebaut - die allerdings die Luft hinter sich enorm aufwirbeln. "Der Fahrer dahinter kommt gut an den Vordermann ran, prallt aber bei ungefähr einer Sekunde Rückstand auf diese unsichtbare Wand", sagt Smedley. Der Hintermann verliert, je näher er kommt, zwischen 25 und 50 Prozent seines Abtriebs. Wie soll er da überholen?

Ziel war es, die aerodynamische Architektur der Fahrzeuge dahingehend zu verändern, dass die Luft des Voranfahrenden möglichst nach oben geleitet und der Abtrieb-Verlust des Aufholenden auf zehn Prozent reduziert wird. Die Analyse beinhaltete also zwei Fahrzeuge gleichzeitig: Welche Aufwirbelung geht vom Fahrzeug vorne aus - und wie reagiert das Auto dahinter darauf? "Das sind 2,4 Milliarden Berechnungen pro Millisekunde. Es hätte zehn Jahre lang gedauert, dieses Auto zu entwickeln, wenn wir so vorgegangen wären wie bisher", sagt Smedley über die heftig regulierten Windkanal-Tests und ebenso regulierten Computer-Simulationen.

Die Formel hat sich deshalb mit AWS zusammengetan, dem Cloud-Computing-Service von Amazon - statt 190 Rechenkernen waren bei der so genannten Computational-Fluid-Dynamics-Simulation bis zu 7000 möglich: Alle Teams lieferten Daten und können sich nun bei der Entwicklung ihrer Autos für die kommende Saison, die bereits am 20. März beginnen wird, darauf stützen: "Das war völlig wahnwitzig; plötzlich war das, was zehn Jahre dauern könnte, in sechs Monaten möglich."

Ganz konkret werden die neuen Autos so aussehen: Der Frontflügel ist einfacher konzipiert, die neuen 18-Zoll-Reifen ermöglichen in Verbindung mit der Unterboden-Form weniger Verwirbelungen hinter dem Vorderreifen; weniger aerodynamische Einzelteile (alles, was ein Formel-1-Auto eher hässlich macht) verursachen weniger Abtrieb.

Natürlich fällt der Abtrieb nicht weg. Er wird nur nicht länger hauptsächlich mit den Flügeln auf der Oberseite des Autos erzeugt werden - sondern über den Unterboden. Dort gibt es künftig Luftkanäle, die einen Unterdruck erzeugen, mit dessen Hilfe sich das Auto förmlich am Boden festsaugt. Es wird also ein Revival der sogenannten "Ground-Effect-Autos" geben, die es in der Formel 1 in den Siebziger- und Achtzigerjahren gab.

Die Autos werden schwerer sein als bisher, sicherer - und langsamer

Kritiker monieren, dass die neuen Autos nicht nur wuchtiger aussehen, sondern auch mehr wiegen. Schon die 752 Kilogramm der aktuellen Rennwagen halten Motorsport-Puristen für zu viel. Die neuen Wagen werden 790 Kilogramm auf die Waage bringen, was zum Teil auch den Crash-Eigenschaften geschuldet ist, die weiter optimiert wurden. Vor allem aber werden die Flitzer der nächsten Generation langsamer werden. Wohl nicht um drei Sekunden pro Runde, was vor allem die Fahrer befürchteten, allerdings garantiert um eine halbe Sekunde.

Es klingt sehr technisch, was da passiert ist; aber man muss es so sehen: Sie verändern den Technik-Sport unter Zuhilfenahme von noch mehr Technik - mit dem Ziel, dass Technik eine kleinere Rolle spielt und es auf der Strecke, nun ja, menschlicher wird. Dass es auf der Strecke wieder zu packenden Duellen kommt.

"Es hat ja Nebeneffekte, wenn an der Spitze plötzlich vier oder fünf Autos nahe beisammen sind und miteinander konkurrieren", sagt Rob Smedley: "Die Renntaktik verändert sich, die Boxenstrategie, wenn in Runde 22 mehrere Autos an der Spitze fahren."

Wer sich mit Smedley unterhält, der bemerkt recht schnell, dass dieses neue Auto nur der erste Schritt sein soll. "Wir nutzen gerade mal fünf bis zehn Prozent von dem, was möglich ist - wenn wir den Rest des Eisbergs anpacken, können wir den Sport revolutionieren", sagt er. Also, zum Beispiel: eine Analyse der Rennstrecke und die Reaktion der Reifen auf die Beläge, veränderte Cockpits. Smedley sagt: "Die Mechanismen sind da, wir können nun an den Schrauben drehen."

Nun aber erst mal die kommende Saison und dieses neue Auto, über das Smedley sagt: "Es ist quasi unmöglich, eine Prognose abzugeben, was genau passieren wird." Ist das nicht der Grund, warum die Leute eine Sportart faszinierend finden? Weil sie nicht wissen, was passieren wird.

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