Echter britischer Humor, wenn unter dem Ortsschild von Silverstone der Hinweis „Vorsichtig fahren“ prangt. Ausgerechnet hier, wo die Formel 1 alle rasend macht – es ist der Ort, an dem sie 1950 erfunden wurde. Vor einem Dreivierteljahrhundert kam eigens der britische Regent George VI. nach Mittelengland, um dem Debüt eines ganz neuen Rennwagen-Reglements beizuwohnen, das profan „Formel A“ genannt wurde. Um gleich mal den Anspruch klarzumachen, bekam die Meisterschaft schon bald eine große Eins. Heute kommt die ganze Welt zum Großen Preis von Großbritannien, zumindest jene 140 000 Menschen, die für den Sonntag Tickets bekommen haben. Dagegen wirkt selbst Wimbledon etwas mickrig.
Die Formel 1 war auch schon Spektakel und Herzenssache, als noch um Strohballen herumgefahren wurde. Heute ist sie ein globales Markenzeichen, ihr Name reicht aus, um zum Jubiläum einen Hollywood-Blockbuster zu betiteln. In echt und auch ohne Brad Pitt boomt die Rennserie wie noch nie in ihrer Geschichte, zieht vor allem immer mehr Jugendliche und Frauen in ihren Bann, und schafft es laut der jüngsten Fanumfrage sogar, Gen Z und Boomer zu vereinen. Fußballtrainer José Mourinho, Boxengassengast in Silverstone, beschreibt die Königsklasse so: „Das Können und die Perfektion in allen Bereichen begeistert mich. So viele Egos, so ein enormer Druck – da kann ich was mitnehmen für meine eigene Arbeit.“
Alles in diesem Sport ist aufgeladen, die Maschinen von Turboladern, die Menschen von ihren Emotionen. Jeder Grand Prix ein Cocktail voller Tempo, Glamour, Geld, Kampf, Gefahren, Technik und Geschäft, dabei wird alles auf die Spitze getrieben. Wer die Formel 1 für aus der Zeit gefallen hält, empfindet das Spektakel als Unvernunft und Übermut, Tod und Teufel. In vielem ist der Top-Motorsport aber einfach nur ehrlich: Das Milliardengeschäft bekennt sich zur Käuflichkeit. Die Formel 1 hat Ingenieuren von Beginn an eine Spielwiese geboten, unter den Besitzern aus den USA versucht sie nun schrittweise vollends korrekt zu werden. Silverstone hat am Wochenende den Abschied von reinen Verbrennern erlebt, künftig steigt der Elektroanteil im Motor auf 50 Prozent. Auch dieses Bekenntnis zur Nachhaltigkeit lohnt sich, zuletzt betrug der Jahresumsatz der Serie 3,65 Milliarden Dollar, ein Zuwachs von 25 Prozent.

Jubiläen sind immer willkommen in einem von Statistiken dominierten Sport. Die Briten unterstreichen mit gelebtem Snobismus ihre Besitzansprüche an der Formel, was nicht ganz unberechtigt erscheint, wenn sieben von zehn Rennställen im Umkreis des Epizentrums Silverstone zu Hause sind. Allerdings ist kein Team mehr in einheimischem Besitz. Ein großer Wirtschaftsfaktor bleibt der Motorsport trotzdem: Im Vereinigten Königreich sorgt die Motorsportindustrie für umgerechnet 13 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. Vor dem britischen Grand Prix empfing Keir Starmer eine bunte Abordnung der Formel 1 in Downing Street. „Ich bin wirklich stolz darauf, was die Formel 1 für unser Land tut“, sagte der Premierminister, „nicht nur wirtschaftlich, sondern auch wegen der puren Freude, die sie den Menschen bereitet“. Eine sportliche Art der Weltanschauung wird gelebt.
Nach Titeln steht es 20:12 für die Briten, doch rechnet man die Schotten heraus, kann Deutschland fast aufschließen
Insgesamt führt Großbritannien die ewige Fahrerwertung mit 320 Einzelsiegen an, gefolgt von Deutschland (179), nach Titeln steht es 20:12 zwischen Briten und Deutschen. Rechnet man die fünf Meisterschaften der Schotten Jackie Stewart und Jim Clark raus, wird es knapper. Erst recht, wenn die Deutschen noch Jochen Rindt dazuzählen, der in Mainz geboren wurde und 1970 mit österreichischer Lizenz Champion wurde. Die seit dem Fußball-WM-Finale in Wembley 1966 geschürte besondere Rivalität zwischen beiden Ländern hat auch auf vier Räder übergegriffen, seit die Autobahn-Nation in der ewigen Statistik mächtig gegenüber dem Land der Kreisverkehre aufgeholt hat. Nimmt man die jüngere Hälfte der 75 Jahre Formel 1, dann würden die Deutschen bei den Fahrertiteln sogar mit 12:10 führen.
Die Zeitenwende kam in den frühen Neunzigern, als sich der britische Ex-Rennfahrer und Fernsehkommentator John Watson in Spa verwundert fragte: „Wo kommen denn bloß all’ die deutschen Fahnen her?“ Daraus wurde Entsetzen, als Michael Schumacher nach dem Crash-Duell 1994 mit Damon Hill das Vermächtnis des 1961 kurz vor dem Titelgewinn tödlich verunglückten Wolfgang Graf Berghe von Trips erfüllte. Den Schimpfnamen „Schummel-Schumi“ hat der Rekordweltmeister (der wie der Brite Lewis Hamilton sieben Titel errang) übrigens dem damals tricksenden Technikpersonal bei Benetton zu verdanken – einem Schotten und einem Engländer.

Nach „Bumm-Bumm-Boris“ kam „Brumm-Brumm-Schumi“, mit Einschaltquoten in zweistelliger Millionenhöhe. Nach und mit Schumacher kamen die Sponsoren und die Automobilhersteller. Mercedes erst als Motorenpartner, dann als Miteigentümer, schließlich als Teambesitzer. Rivale BMW wollte es nachmachen, scheiterte mit seinen Kooperationen aber an den eigenen Ansprüchen. Künftig versucht es Audi, und startet ironischerweise am gleichen geografischen Ausgangspunkt wie Mercedes im Zürcher Oberland. Nur, dass die Ingolstädter für ihr Werksensemble das Schweizer Sauber-Team gleich ganz übernehmen. Eine neue Perspektive.
Die Formel 1 als Image-Beschleuniger, das hat schon früh funktioniert. Mercedes, bei der Premiere 1950 in Silverstone als Marke aus dem Land des Kriegsverlierers nicht dabei, stieg erst 1954 in die Formel 1 ein – gleich mit einem Doppelerfolg an jenem Tag, als Deutschland in Bern auch Fußball-Weltmeister wurde. Die Silberpfeile waren zurück, und in einem solchen konnte vor 70 Jahren Stirling Moss als erster Brite seinen Heim-Grand-Prix gewinnen.
Der Große Preis von Großbritannien ist neben dem von Italien das einzige Rennen, das seit 1950 ununterbrochen im WM-Kalender steht, wenngleich die Premiere auch das Prädikat Großer Preis von Europa trug. Neben Silverstone, wo der britische Grand Prix seit 1987 seine feste Heimat hat, fand das Rennen früher auch in Brands Hatch und Aintree statt. Einen deutschen Grand Prix gab es zuletzt 2019 in Hockenheim, der Nürburgring durfte einmal noch während Corona aushelfen. Die privaten Rennstreckenbetreiber haben im Ausscheidungsfahren gegen staatlich subventionierte Pisten in aller Welt keine Chance, und sie finden offenbar keine Investoren.
Formel-1-Geschäftsführer Stefano Domenicali hofft, dass seine Serie durch den Zusammenschluss von RTL und Sky hierzulande wieder flächendeckende Aufmerksamkeit gewinnt: „Das sind großartige Neuigkeiten für unseren Sport. Die Synergieeffekte können dem deutschen Markt einen Schub geben – und das ist genau das, was wir alle wollen.“ Im aktuellen Fahrerfeld sind die Briten mit fünf einheimischen Piloten klar in der Überzahl, Deutschland hat in Nico Hülkenberg erneut nur noch einen einsamen Vertreter am Start. Germany sucht derzeit sein „next Top-Model“ auf vier Rädern.