Wer immer mal Quarterback in der NFL sein wollte, dem sei das Virtual-Reality-Erlebnis „Pro Era“ empfohlen. Nur Achtung: Wenn zwei 150-Kilo-Naturgewalten auf einen zustürmen, kann es passieren, dass man einen Satz nach hinten macht – und auf der Couch landet, denn im wirklichen Leben befindet man sich mit VR-Brille auf dem Kopf immer noch im Wohnzimmer und nicht auf dem Spielfeld. Es fühlt sich dennoch echt an: Stadionatmosphäre, Spielsituationen, Touchdown-Pässe; und selbst wenn es ein Videospiel ist und auf Spielspaß ausgelegt, erkennt man doch in vielen Momenten: Wow, geht das schnell zu auf einem Footballfeld! Gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten!
Die Fragen, die sich Experten des American Football derzeit stellen, gerade in Zeiten, in denen die körperlichen Fähigkeiten von Sportlern weitestgehend vermessen sind, sind folgende: Warum bringt der eine Profi den Pass unter Druck an den Mann und der andere nicht? Wie gelingt es einem, die gegnerische Defensive zu dechiffrieren und den freien Kollegen zu erkennen? Wie weicht der eine den heranstürmenden Gegnern aus – und der andere wird umgerissen und verletzt? Auch das ist übrigens ein aufkommender Gedanke beim Virtual-Reality-Football: Nach drei Tackles durch die Kolosse wäre man im wirklichen Leben vermutlich schlimm verletzt.
US-Basketball:Der König schreibt seine eigene Geschichte
LeBron James will Geschichte schreiben: als Vater-Sohn-Gespann, als NBA-Klub-Eigentümer, als Hollywood-Produzent; und er hat das alles ganz genau so geplant – nicht schlecht für einen aus ärmsten Verhältnissen, der so mächtig und damit so frei ist wie kaum ein anderer Sportler. Was macht er mit dieser Freiheit?
Einige Teams der National Football League (NFL) haben deshalb in der Vorbereitung auf die neue Saison, die am Donnerstag beginnt, eine technische Neuerung eingeführt: eine Kamera am Helm des Spielmachers bei Trainingsspielen, die dessen Sichtfeld filmt und per Mikrofon Stimmen einfängt. „Die hören wirklich alles, was ich sage“, berichtete Kirk Cousins, der in der Sommerpause von den Minnesota Vikings zu den Atlanta Falcons gewechselt ist dank eines 180-Millionen-Dollar-Vertrags über vier Spielzeiten, und erläuterte: „Das waren die Momente, in denen ich alleine mit den Jungs gewesen bin; jetzt werde ich ausspioniert, wie beim Geheimdienst.“
Auf der Technikmesse CES im Januar konnte man die Fähigkeiten dieser Kamera (DJI Action 2) begutachten. Es beginnt im „Huddle“, dem Kreis, in dem Akteure den nächsten Spielzug besprechen. Es ist alles zu hören, also nicht nur, ob Cousins die richtige Taktik ansagt, und das auch wirklich alle Mitspieler mitbekommen. Sondern eben auch: Wie sagt er das? Wie reagieren Kollegen darauf? Das ist der Spionageaspekt, der Cousins nicht ganz geheuer ist, denn natürlich ergibt sich für die Trainer ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn – die Spieler jedoch empfinden es als Eindringen in eine heilige Blase, die bislang nur ihnen gehörte. „Jetzt ist der komplette Verein dabei“, sagt Cousins, der im Huddle Kollegen anfeuert und auch mal anpfeift.
Technische Hilfsmittel verstärken den Trend zum Rasenschach
Der zweite, noch spannendere Teil: der Spielzug selbst. Es ist (fast) in Echtzeitgeschwindigkeit zu sehen (im wahren Leben geht alles noch mal 15 Prozent schneller als im Videospiel), wie sich ein Spielzug entwickelt, was ein Quarterback sehen könnte. Könnte deshalb, weil die Kamera das Sichtfeld einfängt und nicht den Blick. „90 Prozent der Zeit sind mein Helm und damit die Kamera auf einen Verteidiger gerichtet. Ich gucke aber aus den Augenwinkeln woanders hin“, sagt Cousins. Die Kameralinse ist deshalb nicht nur ein Mittel zu Verbesserung des Spielmachers, sondern auch für dessen Mitspieler und den Trainer, denn diese erkennen auch, was der Quarterback in bestimmten Augenblicken nicht sieht. Also in den Momenten, wenn Zuschauer im Wohnzimmer nach sieben Zeitlupenwiederholungen aus sieben Perspektiven die Hände über den Kopf schlagen und sich fragen: Wie konnte der Quarterback den völlig freien Mitspieler übersehen?
Die Aufnahmen zeigen, vereinfacht ausgedrückt, zum Beispiel dies: Ein Spielzug war darauf ausgelegt, dass der Quarterback zwei mögliche Passempfänger auf der linken äußeren Spielfeldseite beobachtet, um ihnen im besten Falle das Lederei zuzuwerfen – er hatte also keine Chance, den freien Mitspieler ganz rechts zu sehen, nicht mal aus den Augenwinkeln. Die Trainer könnten in diesem Fall nun entscheiden: Sollen sie den Laufweg des Kollegen auf der rechten Seite so anpassen, dass er ins Blickfeld des Quarterbacks rückt – und ist er dann noch so ungedeckt wie vorher? Ändern sie das Sichtfeld des Spielmachers, indem sie Laufwege der Spieler links weiter in die Mitte rücken? Oder bringen sie dem Quarterback bei, in einem bestimmten Moment den Kopf zu drehen? Der Clou ist nämlich: Auch die Receiver sehen die Aufnahmen und bemerken, wann sie vom Passgeber entdeckt werden können und wann nicht.
American Football wird bisweilen als Rasenschach bezeichnet, durch technische Hilfsmittel verstärkt sich der Trend. Bei Atlanta sehen nicht nur die Offensivspieler, sondern auch die Verteidiger die Aufnahmen und können ihrerseits ihre Aktionen anpassen. Indem sie sich etwa fragen, ob sie das Sichtfeld eines Quarterbacks verdecken können; oder wann sie geschlagen sind, weil Passgeber und -empfänger perfekt harmonieren. Die Atlanta Falcons überlegen derzeit, am Helm eines zentralen Verteidigers ebenfalls eine Kamera anzubringen, um auch die Gegenperspektive sehen zu können.
„Je mehr Feedback, je mehr Analyse, desto besser“, sagt Quarterback Kirk Cousins
In der NFL verwenden neben Atlanta derzeit auch Miami und Pittsburgh diese Quarterback-Helmkamera. Bei den Falcons ist bietet sie tatsächlich sogar die sechzehnte (!) Perspektive: Beim Training stehe sechs Kameras am Spielfeldrand zur Verfügung, zudem neun weitere, die höher angebracht sind für Vogelperspektiven. Eine Trainingseinheit liefert etwa 20 Stunden Video-Rohmaterial.
„Es ist komplette Überwachung“, sagt Cousins. „Je mehr Feedback, je mehr Analyse, desto besser“, findet er, gibt jedoch zu: „Ich bin aber auch ein Nerd.“ Im ersten Spiel am Sonntag treffen die Atlanta Falcons auf die Pittsburgh Steelers, die ebenfalls mit Quarterback-Kameras arbeiten. Ob sich schon gravierende Änderungen erkennen lassen, ist eine der spannenden Fragen zu Beginn der Saison.