Football:Die Offensive des Verlierervereins

Football: Quarterback der Falcons: Matt Ryan, 31.

Quarterback der Falcons: Matt Ryan, 31.

(Foto: AP)

Die Atlanta Falcons stehen mit Quarterback Matt Ryan, 31, überraschend im NFL-Halbfinale, in dem sie auf die Green Bay Packers treffen.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

"Kann es sein, dass manche Menschen als Verlierer geboren werden, damit es die Gewinner einfacher haben im Leben?" Diese wunderbare Frage, an niemanden direkt gerichtet und doch an die ganze Welt, stammt aus der wunderbaren Fernsehserie "Atlanta" - und jetzt darf diese Frage ein wenig umformuliert auch dem Footballklub Atlanta Falcons gestellt werden: Kann es sein, dass manche Vereine als Verlierer gegründet werden, damit es die Gewinner einfacher haben in der amerikanischen Profiliga NFL?

Die Falcons haben in den 50 Jahren ihrer Existenz noch keine Meisterschaft gewonnen, die anderen Halbfinalisten dieser Spielzeit insgesamt 14: Das sind die Gewinner dieser Liga, die Pittsburgh Steelers (sechs Titel), die New England Patriots (vier) sowie die Green Bay Packers (vier), mit denen es Atlanta an diesem Sonntag zu tun bekommt.

Die Falcons waren zunächst einmal berühmt für ihre Erfolglosigkeit, bis zu ihrer ersten, bislang einzigen und noch immer als ungeheuerlicher Zufall geltenden Finalteilnahme im Jahr 1999 hatten sie nur sechs von 31 Spielzeiten mit einer positiven Bilanz beendet. Statt Titel gab es nur groteske und auch traurige Geschichten um diesen Verein: Anfang der Neunzigerjahre zum Beispiel verkündete der prägende Akteur Deion Sanders, dass er lieber Baseball spielen wolle als Football. 2007 wurde der als Heilsbringer vermarktete Spielmacher Michael Vick wegen illegaler Hundekämpfe ins Gefängnis geschickt. Und vor zwei Jahren kam heraus, dass die Falcons beim Zuschauerlärm über Lautsprecher ein paar Dezibel drauf packten, um den Eindruck zu erwecken, dass tatsächlich was los ist im Georgia Dome.

Besonders bitter: 1992 schickten die Falcons den jungen Spielmacher Brett Favre zu den Green Bay Packers, der dort zwei Meisterschaften gewann und heute als einer der besten Quarterbacks der Geschichte gilt. Der Verliererverein sorgte mit diesem Tauschgeschäft dafür, dass es die Gewinner tatsächlich einfacher hatten.

Vor dieser Spielzeit galten die Falcons als talentiertes Team, keinesfalls jedoch als Kandidat auf eine Super-Bowl-Teilnahme. Wer verstehen möchte, warum der Verein nach einer formidablen regulären Spielzeit (11:5 Siege) und einem überzeugenden Erfolg in den Playoffs (36:20 gegen die Seattle Seahawks) plötzlich auf der Gewinnerseite steht, dem sei eine Szene aus dem Dezember empfohlen, die Trainer Dan Quinn seinen Akteuren seitdem immer wieder vorspielt: Es ist ein Pass von Spielmacher Matt Ryan zu Tevin Coleman im Schlussviertel gegen die Carolina Panthers - doch Quinn interessiert sich weniger für den wichtigen Raumgewinn von 31 Yards als vielmehr dafür, was abseits des Spielfeldes geschieht.

"Das ist der Schlüssel, warum wir in dieser Saison so erfolgreich sind", sagt Quinn und deutet auf einen Falcons-Spieler, der an der Seitenlinie wilder herumhüpft als jeder Fan: Davonta Freeman, Colemans Kollege und Konkurrent. Laufspieler gelten als Diven, die bei jedem Spielzug den Ball wollen und jede Auswechslung als Affront deuten. Freeman hätte beleidigt auf der Bank hocken können mit dieser Hätte-ich-auch-gekonnt-Miene, doch er freute sich über die Leistung von Coleman. "Wir sind keine Mannschaft, wir sind eine Bruderschaft", sagt Quinn: "So banal das klingt, aber das ist der Unterschied."

Freeman und Coleman sind herausragende Laufspieler, weshalb Quinn in der Offensive nicht auswechseln muss, sondern nachladen darf. Sollte diese Rotation der Running Backs die gegnerische Verteidigung noch nicht ausreichend verwirren: Auch andere können bei den Falcons die Bälle fangen, weshalb Quarterback Matt Ryan die explosivste Offensive der Liga orchestriert. Atlanta hatte in der regulären Saison die siebtmeisten Punkte (540) der NFL-Geschichte produziert, zuletzt überrannten das Team die Seattle Seahawks, eine der momentan besten Defensiven.

Plötzlich sind die Falcons eine Attraktion. Quarterback Ryan gilt neben den üblichen Gewinnern Tom Brady (Patriots), Ben Roethlisberger (Steelers) und Aaron Rodgers (Packers) als Kandidat auf die Auszeichnung zum wertvollsten Spieler der Saison. Das Problem: Die Offensive der Packers agiert seit Wochen nicht weniger explosiv und präzise als die der Falcons. Deshalb gilt der Playoff-Punkte-Rekord aus dem Jahr 2009 (96 in der Partie Green Bay gegen Arizona) als gefährdet. Es dürfte jene Mannschaft gewinnen, die den Gegner besser ausbremsen kann.

"Wir haben eine Chance, die müssen wir nutzen", sagt Trainer Quinn: "Wer weiß schon, was kommende Saison passiert?" Es wird am Sonntag nach 24 Jahren die letzte Partie der Falcons im legendären Georgia Dome sein, der Verein zieht um in eine noch prächtigere Arena nebenan. Die Symbiose der Running Backs Coleman/Freeman gilt als fragil, weil künftig doch jeder mehr Spielzeit, mehr Anerkennung, mehr Geld möchte - und einer vielleicht geht. Denn Freeman freut sich zwar über Atlantas gelungene Spielzüge, sagt aber auch: "Ich bin einer der besten drei Laufspieler dieser Liga. Ich ordne mich derzeit dem Erfolg der Mannschaft um."

Derzeit - das Wort steht symbolisch für die Falcons und diese Saison. Sie mögen vor 50 Jahren als Verlierer gegründet worden sein, derzeit plagen sie all die üblichen Gewinner.

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