In der 11. Spielminute erinnerte sich Miroslav Klose an den Screenshot. Im Geiste sah er plötzlich all die Brasilianer vor sich, die bei gegnerischen Eckbällen immer nach vorne an den ersten Pfosten rennen, und er sah auch die mehrere Meter große Lücke hinter den vielen Brasilianern. Toni Kroos stand draußen an der Eckfahne, legte sich den Ball zurecht und schaute hoch, und das war der Moment, in dem Miroslav Klose beschloss, dass er's jetzt tun würde. Er rannte nach vorne an den ersten Pfosten.
So begann das, was man heute mit einem einzigen Klick in allen Suchmaschinen der Welt findet, außer in brasilianischen möglicherweise. In Brasilien aktiviert sich bei der Eingabe von "7:1" vermutlich der Selbstzerstörungsmodus, oder, was auch sein könnte, die Suchmaschine fängt an zu weinen. "Sete - um" (sieben - eins) ist in Brasilien zu einer Metapher für ehrabschneidende Niederlagen geworden, und schuld daran sind nicht nur Miroslav Klose und Toni Kroos, sondern auch Thomas Müller und Hansi Flick.
Wer sich tagesaktuell mit den Vertragsverlängerungen von Müller und Flick beim FC Bayern befasst, der darf (für brasilianische Leser: muss) sich ruhig noch mal ins Gedächtnis rufen, was am 8. Juli 2014 in Belo Horizonte geschah.
Kann man legendär steigern? Falls ja, kam dort das mutmaßlich legendärste WM-Halbfinale dieser und anderer Welten zur Austragung, Deutschland führte in Brasilien gegen Brasilien 5:0, am Ende stand es sete-um. Und das alles konnte nur passieren, weil Miroslav Klose und Thomas Müller diesen Screenshot so gut im Kopf hatten, den ihnen das Analyse-Team des DFB vorher gezeigt hatte. "Wir haben in der Vorbereitung gesehen, dass die Brasilianer bei Ecken Manndeckung spielen und mit ihren Gegenspielern mitgehen", erinnert sich Flick, damals so etwas wie der Abteilungsleiter "Standardsituation". "Wir haben diese Szene nicht konkret trainiert, aber explizit besprochen, und mit einem Screenshot in der Teamsitzung haben wir noch mal die Sinne geschärft."
Also lief Klose in dieser 11. Minute forsch nach vorne, Kroos' Ball flog plangemäß über die Menschenansammlung am ersten Pfosten hinweg, und hinten am zweiten lauerte Müller, der sich listig fortgestohlen hatte. Absurd einfach sah es aus, wie er den Ball mit der Innenseite ins Tor beförderte - in einem WM-Halbfinale war er so unbewacht, als hätten die Brasilianer schon damals eine behördlich verordnete Abstandsregelung eingehalten.
Im Campo Bahia festigte sich in Flick der Eindruck, dass er Müller vertrauen kann
Dieses Tor gehört längst zur deutschen Fußball-Geschichtsschreibung, aber es ist nicht so, dass in dieser Szene nur olle historische Figuren mitspielen. Flick und Müller sind so gegenwärtig wie lange nicht mehr, und wenn man die vergangenen Tage richtig verstanden hat, dann sollen sie den prominentesten Verein des Landes jetzt auch noch gemeinsam in die Zukunft führen: Hansi Flick, 55, in seiner Eigenschaft als Chefcoach, ausgestattet mit einem druckfrischen Vertrag bis 2023 - und Thomas Müller, 30, in seiner Eigenschaft als Thomas Müller, ausgestattet mit einem druckfrischen Vertrag bis 2023.
Natürlich hat Flick nicht gesagt: Leute, wenn der Müller nicht bleibt, dann bleib' ich auch nicht. Und natürlich hat Müller nicht gesagt: Wenn der Flick nicht bleibt, dann bin ich auch mal weg. Aber natürlich hat das eine mit dem anderen zu tun, oder besser: der eine mit dem anderen.
Die Geschichte von Hansi Flick und der WM 2014 ist hinreichend erzählt, aber es ist halt immer nur die eine Geschichte. Es ist die Geschichte vom Co-Trainer Flick, der seinen Vorgesetzten Joachim Löw zum WM-Titel führt. Auf leise Weise hat sich Flick damals über seinen Chef erhoben, er hat das Einstudieren von Ecken und Freistößen durchgesetzt, von jenen Disziplinen also, zu denen Löw auch ohne behördliche Anordnung stets mehrere Armbeugen Abstand gehalten hat. Flick hat damals die berühmten Standard-Challenges veranstaltet, schöne Bilder waren das. Sie zeigten Spieler, die am Rand des Trainingsplatzes mit Kulis Varianten auf Blöcke kritzelten und sie dann auf den Rasen übersetzten.
Deutschland ist 2014 auch wegen seiner Standards Weltmeister geworden, diese Version der Geschichte hat sich herumgesprochen. Weniger bekannt ist die andere Lesart, und jetzt wird's wieder aktuell: Im Campo Bahia, dem bis heute gründlich verherrlichten WM-Quartier auf einem brasilianischen Halbinselchen, hat sich in Flick ein Verdacht verfestigt. Der Verdacht, dass er diesem Müller vertrauen kann - und dass in diesem Müller viel mehr steckt als ein torgefährlicher Komiker, der natürlich trotzdem nicht widerstehen kann, wenn er in den abstruseren Ecken des Internets einen irren Freistoßtrick aufgabelt.