Finalstadion der Copa América:Tribüne der Tränen

Finalstadion der Copa América: Fotodokument aus einer düsteren Vergangenheit - vor der Tribüne im historisch belasteten Stadion von Santiago.

Fotodokument aus einer düsteren Vergangenheit - vor der Tribüne im historisch belasteten Stadion von Santiago.

(Foto: oh)
  • In Chiles Nationalstadion folterten und mordeten die Pinochet-Schergen.
  • Jetzt will das Land dort einen Finalsieg gegen Argentinien feiern.

Von Javier Cáceres, Santiago de Chile

Auch am Samstag werden die Verschwundenen wieder zugegen sein, stumme Zeugen eines Finalspiels, wie es das Nationalstadion von Chile noch nie gesehen hat. Denn wenn Chile auf Argentinien trifft, dann wird dieses Stadion, das so repräsentativ ist für das Gastgeberland der Copa América, nicht vollends gefüllt sein. In der Nordkurve, bei Tor 8, werden seit ein paar Jahren gut 20 Stufen freigehalten - damit niemand vergesse, dass hier einst Menschen aus politischen Gründen festgehalten, gefoltert, ermordet wurden.

Hier, in dieser Sportstätte, die in den Dreißigerjahren nach dem Vorbild des Berliner Olympiastadions gebaut worden war, die als zentraler Spielort der WM 1962 diente - und dann zu einem Hort des Terrors wurde, der sich jahrelang über Chile legte. "Un país sin memoria es un país sin futuro", steht auf der Tribüne geschrieben: "Ein Land ohne Erinnerung ist ein Land ohne Zukunft."

Einer, der nie vergessen hat, ist Andrés Bravo. Wie könnte er auch?

Bravo, Trekker-Kleidung, Kinnbärtchen, blank-polierter Schädel, sitzt in der Lobby eines Hotels in Santiago vor einem durchgestylten Kaminfeuer und sagt: "Der 11. September war der Tag, an dem meine Kindheit vorüber war, von einem Tag auf den anderen."

Der 11. September, die Jahreszahl 1973 muss man in Chile nicht erwähnen, war der Tag, an dem Chiles Militär unter der Führung von General Augusto Pinochet und mit tatkräftiger Hilfe der USA gegen Salvador Allende putschte, den ersten frei gewählten sozialistischen Präsidenten der Welt. "Jetzt hat die Armee nicht mehr länger stillgehalten. Drei Jahre Marxismus sind ihr genug", schrieb damals die Bild; und der CSU-Grande Franz Josef Strauß freute sich: "Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang."

Den offiziellen Zahlen zufolge wurden dann mehr als 3000 Menschen von den Schergen Pinochets ermordet; mehr als 30 000 wurden inhaftiert und gefoltert, viele davon im Stadion, von dem niemand mit Gewissheit sagen kann, bis zu welchem exakten Tag es als Gefangenenlager diente. Zwischendurch, im Oktober, war es der Ort eines infamen Spektakels: Ein Ausscheidungsspiel für die WM 1974, die in Deutschland stattfand, führte Chile und die UdSSR zusammen; die UdSSR aber weigerte sich, "in einem Konzentrationslager" anzutreten. Die Sowjets reisten tatsächlich nicht an; Chiles Nationalelf erzielte ein absurdes, symbolisches Tor gegen einen nichtexistenten Gegner, der Schütze: Francisco Chamaco Valdés.

Andrés Bravo war damals, 1973, neuneinhalb Jahre alt. Und wenn er heute davon spricht, dass ihm an jenem 11. September die Kindheit geraubt wurde, dann deshalb: "Dieses Stadion war mein Spielplatz. Der Hinterhof meines Hauses."

Bravo wohnte an der Avenida Grecia, Ecke Pedro de Valdivia, im dritten Stock eines Mietshauses, an einer der Ecken des Stadions und "gegenüber dem Nackten"- der Skulptur eines Modellathleten, die gewissermaßen den Eingang bewacht.

Luftwaffe mit tödlichen Ladungen

Er erinnert sich, wie die Hawker Hunters der Luftwaffe an jenem 11. September übers Stadion und über seinen Kopf flogen, um im Herzen der Stadt ihre tödliche Ladung abzuwerfen. Flugzeugmotorenlärm, Donner und Rauchsäulen - das waren die Geräusche und Bilder, auf die er sich keinen Reim machen konnte, weil er noch nicht wusste, dass das Ziel dieser Flüge der Präsidentenpalast La Moneda war. Allende, der Präsident, harrte dort mit einem Maschinengewehr und ein paar Getreuen aus, hielt per Radio seine letzte Rede an das Volk, fand schließlich den Tod.

Erst viel später konnte sich Bravo auf andere Dinge einen Reim machen: darauf, dass auf der anderen Straßenseite, am Außenzaun des Stadions, bewaffnete Kadetten standen, Auge in Auge mit Frauen, die nach ihren Männern Ausschau hielten und erfahren wollten, ob sie noch am Leben waren.

Zum Beispiel Alberto "Gato" Gamboa, der oft auf der Pressetribüne des Stadions gesessen hatte, wenn Colo Colo spielte, oder Chiles Nationalelf. Er wurde im Velodrom, im Schatten des Stadions, so zugerichtet, dass er noch Jahrzehnte später von Tränen übermannt wurde, wenn er davon sprach. Oder Hugo Lepe, der in den Sechzigerjahren Nationalspieler gewesen war, die Fußballergewerkschaft gegründet hatte und dann inhaftiert wurde, weil er als Ingenieur auf einem Flughafen arbeitete, aus Sicht der Militärs an einem "strategischen" Ort. "Wollen wir doch mal sehen, was du aushältst, du Fußballer", höhnten die Soldaten und ließen die Gewehrkolben auf Lepes Schienbeine krachen, ein ums andere Mal.

Ein anderer Betroffener war Rubén Bravo, der Vater von Andrés, dessen Familie erfuhr, dass er im Stadion war, als sie längst wusste, was es zu bedeuten hatte, wenn auf der anderen Straßenseite Ventilatoren surrten, auf dass sie Lärm verschluckten. Lärm von Gewehrsalven.

"Irgendwann stand ich auch am Stadionzaun, wie so viele, an der Hand meiner Mutter", sagt Bravo. "Die Bilder, die da in mir hochkommen, sind heavy. Sehr heavy." Das "Vergehen" seines Vaters? "Er war Mechaniker. Gewerkschafter. Sympathisant Allendes." Das reichte damals aus. Einen Monat lang war sein Vater im Stadion. Über das, was ihm dort zugefügt wurde, habe er nie im Detail sprechen wollen, sagt Andrés Bravo. Oder können.

Er selbst, sagt er, habe Jahre gebraucht, um das Stadion, den Ort seiner Kindheit, wieder betreten zu können. Sein Vater litt noch viel mehr, irgendwann zogen sie weg, in einen Vorort Santiagos, 40 Autominuten von der Innenstadt entfernt. Doch das Stadion ließ sie nie wieder los.

Irgendwann habe er begonnen, die Abzüge der Bilder, die Fotografen wie Marcelo Montesino, Koen Wessing oder Chas Gerretsen vom Gefangenenlager im Stadion machen konnten, in den aktuellen Kontext einzubetten. So wie das Foto auf dieser Seite: "Für mich war das eine Art Katharsis", sagt Bravo, und er wirkt, als habe er eine Form von Frieden gefunden, seit Chile nach jahrelangen Debatten und Kämpfen auch im Stadion einen Ort fand, der Opfer der Diktatur zu gedenken.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: