Finale der Fußball-EM:Frankreichs Herz reißt in tausend Stücke

Finale der Fußball-EM: Bacary Sagna (Nr. 19), Eliaquim Mangala und Yohan Cabaye (li.) waren untröstlich - die EM endete für Frankreich im Tränenland.

Bacary Sagna (Nr. 19), Eliaquim Mangala und Yohan Cabaye (li.) waren untröstlich - die EM endete für Frankreich im Tränenland.

(Foto: AP)

Welch ein Schock, welch ein Drama! Frankreich erlebt im EM-Finale die bitterste Stunde seiner Fußball-Geschichte. Die Beteiligten wirken wie versteinert.

Von Thomas Hummel, Paris

Als das Undenkbare wahr geworden war, hatte man tatsächlich einmal einen unverstellten Blick auf die Charaktere dieser oft so glatten Branche. Im Moment der totalen Enttäuschung reagiert eben jeder anders. Blaise Matuidi, auf dem Spielfeld ein knochenharter Zweikämpfer und Schufter, kam oben auf der Haupttribüne an, am Laufsteg der Siegerehrung. Sein Körper bebte unrhythmisch, er heulte. Der schluchzende Matuidi gab all den Anzugträgern und Funktionären da oben die Hand, er weinte sie förmlich an. Die alten Herren wussten nicht recht, was sie nun tun sollten, sie blickten betreten, schüttelten seine Hand. Einer von ihnen hing Matuidi die Silbermedaille um den Hals. Der heulte einfach weiter.

Stürmer André-Pierre Gignac - ein Mann, gefühlt so groß wie der Eiffelturm - zeigte keine Regung, vielleicht atmete er nicht einmal. Kollege Olivier Giroud verweigerte das Überstreifen der Silbermedaille und versteckte sie sogleich in seinen Händen.

Unten tauchte Paul Pogba auf, blickte vom Spielfeld aus nach oben, wo nun die Portugiesen den Pokal bekamen. Er stand da, noch breitbeiniger als Cristiano Ronaldo vor einem Freistoß, die Arme vor der weit vorgestreckten Brust verschränkt. In seinem Blick lag nichts anderes als Verachtung. Als Pepe oben den Pokal hob, machte Pogba unten ein paar gymnastische Arm- und Brust-Übungen, als wollte er sagen: Egal, was da gerade vor sich geht, ich bin kein Verlierer, das kann gar nicht sein.

War er aber doch. Und zwar nicht irgendeiner. Pogba gehört nun der Mannschaft an, die sich die schlimmste Niederlage in der französischen Fußballgeschichte einhandelte. Als Gastgeber das Finale der Europameisterschaft verloren. 0:1 nach Verlängerung gegen Portugal. "Die Enttäuschung ist riesig", sagte Trainer Didier Deschamps. "Es wäre so schön gewesen, den französischen Fans heute den Pokal entgegenstrecken zu können. Aber das ist leider nicht so."

Dabei war das Land doch gerade so unverhofft in Ekstase verfallen, die Mannschaft hatte die großen Deutschen im Halbfinale besiegt. Es hatte Euphorie geherrscht zwischen Marseille und Lille, für diesen Sonntagabend war zwingend ein Sieg eingeplant, es konnte gar nicht anders sein. Viele Franzosen fragten sich höchstens, ob der Sieg gegen Portugal knapp oder klar ausfallen würde.

Und es sprach ja tatsächlich einiges für diese These, auch während dieses Abends in Saint-Denis. Frankreichs Mannschaft legte aggressiv und entschlossen los, hatte die ersten Chancen. Dann ging Dimitri Payet rustikal in einen Zweikampf gegen Cristiano Ronaldo. Zu rustikal, Payet provozierte eine böse Karambolage mit dem Standbein des Portugiesen, der ging zu Boden und wand sich. Der Schiedsrichter pfiff nicht einmal Foul - Ronaldo wurde wenig später unter Tränen vom Platz getragen. Es war eine Nacht der Zerrissenheit und der Herzensangelegenheiten.

Der Gegner also nun auch noch ohne seinen besten Stürmer. Frankreich war in der Folgezeit meistens besser, hatte die schöneren Gelegenheiten. Mit dem einem Pfostenschuss von Gignac in der Nachspielzeit als Höhepunkt. Es war der Schuss, der Frankreich zum Europameister gemacht hätte, wäre er ein paar Zentimeter weiter rechts gerollt. "Wir hatten viel mehr Chancen als sie. Ich denke nicht, dass wir cool genug waren", erklärte Torwart Hugo Lloris.

Waren Les Bleus nicht ausgeruht?

Trainer Deschamps glich in seinem Anzug oben auf dem Laufsteg den dort wartenden Händeschüttlern. Ohne besondere Regung nahm er die Mitleidsbekundungen entgegen, schritt die Treppe hinab - und rutschte beinahe aus. Das hätte noch gefehlt, ein verletzter Nationaltrainer. So kämpfte er sich später mit heilem Körper aber verletzter Seele durch die Kellergänge des Stade de France. "Das Spiel wurde von Details entschieden", sagte er. Seiner Mannschaft habe etwas die Frische gefehlt, die Effizienz. Er wolle zwar keine Entschuldigung suchen, beklagte aber, dass es einen riesigen Unterschied ausmache, ob man drei oder vier Tage Pause vor dem Finale habe.

Zudem verteidigte er die Spielweise seine Mannschaft, auch in der Verlängerung offensiv auf ein Tor gedrängt zu haben. "Das half Portugal, weil wir ihnen mehr Raum gaben", meinte Deschamps. Raphaël Guerreiro schoss zuerst gegen die Latte per Freistoß, Sekunden später fiel das 0:1, als Éder seinen Gegenspieler Laurent Koscielny abschüttelte und aus 20 Metern ins Tor traf. Dennoch wollte Deschamps nichts bereuen, "weil ein Elfmeterschießen ist immer eine Lotterie".

Doch sein reiches Arsenal an international dekorierten Offensivspielern brachte einfach keinen Treffer zustande. Sie scheiterten an Portugals gutem Torwart Rui Patrício, an ihrer Ungenauigkeit wie Antoine Griezmann bei seiner großen Kopfballchance nach der Pause. Oft genug gewannen Portugals Verteidiger den entscheidenden Zweikampf vor dem Tor. Oder der Pfosten stand im Weg.

Als Schiedsrichter Mark Clattenburg abpfiff, reagierten viele Zuschauer im Stade de France zunächst perplex. Damit hatten sie nicht gerechnet. Niemand pfiff oder buhte. Einige verließen sofort den Innenraum, die meisten aber blieben regungslos stehen. Erst nach einigen Minuten rührten sich die ersten Hände, bald applaudierte das Publikum seinen Spielern. Die Fußballfans in Saint-Denis waren nicht sauer. Sondern traurig.

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