Nächste Woche wartet der nächste heikle Termin auf Gianni Infantino: Der Jahreskongress der globalen Fußballfamilie steht an. Ursprünglich sollte er Anfang Juni in Addis Abeba stattfinden, wegen Corona wurde er auf September und in die digitale Welt verlegt. So oder so, diese Fußballfamilie ist, was das Wirken ihres Präsidenten angeht, tief gespalten. Vor allem die wichtigen Kräfte in Europa und Südamerika, aber auch viele Vertreter Afrikas und Asiens hat der Fifa-Boss Infantino mit seinem autokratischen Führungsstil gegen sich aufgebracht. Vor dem ursprünglichen Kongress-Termin machte gar das Szenario die Runde, dass es zum offenen Aufstand kommen könnte.
Das ist digital kaum umsetzbar. Aber auch nicht mehr nötig; die Kritiker haben längst genug Anlass zur Hoffnung auf eine baldige Wachablösung: Da sind die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Infantino, die über allem schweben. Und da ist nun auch das Verhalten jener Fifa-Instanzen, die angeblich auf ethisch sauberes Verhalten im Weltverband zu achten haben.
Gianni Infantino:Freispruch von der Superfreundin
Die Ethik-Chefin des Fußball-Weltverbandes will nicht gegen Fifa-Boss Gianni Infantino ermitteln - obwohl gerade erst ein strafrechtliches Verfahren eröffnet wurde. Das könnte nun auch für sie gefährlich werden.
Es liegt viel auf dem Tisch. Ende Juli eröffnete der Schweizer Sonderstaatsanwalt Stefan Keller ein Verfahren gegen den Fifa-Präsidenten wegen dessen rätselhaften Geheimtreffen mit dem Chefankläger der Schweizer Justiz, Bundesanwalt Michael Lauber. Diese Treffen haben den Bundesanwalt das Amt gekostet, Strafprozesse beschädigt - und nun Ermittlungen gegen Lauber wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch ausgelöst sowie gegen Infantino wegen Anstiftung dazu.
Zudem hatte die SZ im Mai enthüllt, dass sich Infantino einen rund 200 000 Dollar teuren Privatjet-Flug auf Kosten des Weltverbandes nach Aktenlage mit einer Lüge genehmigen ließ - auch dieser Fall liegt dem Sonderstaatsanwalt Keller vor. Vor drei Wochen trat Kellers Verfahren in die heiße Phase ein: Laubers Immunität wurde vom Parlament in Bern vollständig aufgehoben. Jetzt geht es um alles. Infantino spielt das Spiel um seine Zukunft.
Da wirkt es grotesk, aber auch logisch, dass diejenigen Personen im Fifa-Reich, die Infantino eigentlich kontrollieren sollten, ihm keineswegs scharf auf die Finger schauen. Im Gegenteil: Es festigt sich der Eindruck, dass all die "Ethik-", "Governance-" und "Compliance"-Instanzen vor allem einen Auftrag haben: dem Boss in diesem Spiel den Rücken zu stärken.
Die eine Schlüsselfigur ist María Claudia Rojas. 2017, ein Jahr nach seinem Amtsantritt, hatte Infantino das unabhängige Ethiker-Duo Cornel Borbély und Hans-Joachim Eckert abserviert, als neue Chefermittlerin installierte er die Kolumbianerin Rojas. Die hatten ihm fragwürdige latinische Sportskameraden als "Super-Amiga" angedient. Rojas' Berufung sagt alles über Infantinos neue Fifa: Sie ist eine Verwaltungsjuristin ohne Strafrechtsexpertise und ohne Kenntnis der Fifa-Verfahrenssprachen Deutsch, Englisch, Französisch. Gern verbrachte Rojas bei der WM 2018 rauschende Wochen mit Familienanhang im Moskauer Luxushotel der Fifa. Ab und an rasiert sie einen Sünder aus der Südsee, der Karibik oder Afrika; jüngst publizierte die Fifa hastig einen Tätigkeitsbericht, der gewisse Betriebsamkeit insinuiert. Aber die Leutnants rund um den Boss ließ Rojas stets in Ruhe. Vorneweg Ahmad Ahmad, den schwerbelasteten Chef des Afrika-Verbands CAF, der internationale Strafermittlungen am Hals hat, Infantino aber treu ergeben ist. Oder Ramón Jesurún, jenen Fifa-Vorstand aus Kolumbien, der Anfang Juli im Zuge einer millionenschweren Ticket-Affäre um seinen Nationalverband persönlich zu 83 000 Dollar Geldstrafe verurteilt wurde. Er ist der Landsmann, der Rojas als "Super-Amiga" empfahl. Urteil hin oder her, in Infantinos Vorstand darf der Mann weiter sitzen.
In diese Logik passt, dass Rojas jüngst auch Infantino von allen Vorwürfen freigepaukt hat: bezüglich des mit einer Lüge abgesicherten Privatjet-Flugs - aber auch in Bezug auf die Strafermittlungen von Sonderstaatsanwalt Keller um die Geheimtreffen mit dem Bundesanwalt. Die größte Justizaffäre der jüngeren Schweizer Geschichte? Nicht für Rojas. Alles substanzloser Kram, befand sie und bewies dabei sogar juristische Hellsichtigkeit: Bis heute hat sie ja keinerlei Einblicke in Kellers Dossier. Ein paar öffentlich zugängliche Gerichtsurteile und Verfügungen hat sie laut Mitteilung durchsehen können - und dann ernsthaft mitteilen lassen: "Nach Prüfung der maßgebenden Unterlagen und Beweise" werde, "das Verfahren wegen mangelnder glaubhafter Beweise zu sämtlichen behaupteten Verstößen gegen das Fifa-Ethikreglement" eingestellt.
Rojas' pauschaler Präventivfreispruch schließt die Wagenburg um Infantino. Die Fifa geht aufs Ganze, die Frage ist nur, ob sie jede Rochade durchdacht hat. Denn Rojas' Ethik-Urteil muss nun natürlich auch den Sonderermittler Keller interessieren. Laut Fifa-eigenem Ethikcode muss es auf kompletter und wahrhaftiger Kooperation von Infantino fußen. Also muss der Report wahrheitsgemäße, von ihr validierte Aussagen des Patrons beinhalten. Entweder hat Infantino also alle Vorwürfe überzeugend entkräftet - dann könnte auch Keller seine Akte zu den fragwürdigen Geheimtreffen und das Thema Privatjet-Flug schließen. Oder, was wahrscheinlicher ist: Rojas' Ethikermittlung ist das Papier nicht wert.
Und dann? Dann stellen sich neue juristische Fragen, diesmal zum heiklen Thema Geschäftstreue. Denn die Frau aus Cali in Kolumbien, die für ihr Ehrenamt alljährlich zwischen 250 000 bis 300 000 Dollar einsackt, ist als objektive Aufpasserin gegenüber der Fußballwelt zur Treue verpflichtet - dieser allein, keinesfalls aber dem Fifa-Boss oder einem Funktionär.
Das gilt auch für eine andere schillernde Figur in Infantinos handverlesener Wächter-Combo: Tomaz Vesel, Chef der formal unabhängigen Compliance-Kommission. Ihn holte Infantino kurz nach seiner Wahl 2016 zur Fifa. Es war der Auftakt eines Personalumbaus, dem viele fähige und viele kritische Mitarbeiter zum Opfer fielen. Vesel durfte den rigiden Schweizer Domenico Scala beerben, der Infantino von Beginn an die Stirn geboten hatte. Als Chef des Vergütungsausschusses ist Vesel auch für Infantinos Gehalt zuständig. Das betrug 2016 bei Infantinos Amtsantritt und unter Scalas Verantwortung noch 1,5 Millionen Franken. Inzwischen kommt der Boss, inklusive Boni, auf drei Millionen Franken.
Der Slowene Vesel taucht geschmeidig ab, sobald es Fragen zu seiner Arbeit gibt - für die er pro Jahr mindestens 286 000 Dollar einstreicht, zuzüglich Tagegelder, Spesen, Komfortflüge, Top-Hotels. Das Jahressalär, das er im eigentlichen Beruf als Chef des slowenischen Rechnungshofs kassiert, wird auf nur 60 000 bis 70 000 Euro geschätzt. Aber was tut Vesel für das viele Geld des Fußballs? Leistet er seriöse Kontrollarbeit?
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Vesel musste im April 2017 rückwirkend Infantinos Privatjet-Flug aus Surinam nach Genf genehmigen. Dafür hatte ihm Infantinos Assistent und Reisegefährte Mattias Grafström damals eine faustdicke Unwahrheit aufgetischt: Man habe so eilig heimkehren müssen, weil gleich nach der Landung am 12. April 2017 ein wichtiges Treffen anstand, um 14 Uhr mit dem Uefa-Präsidenten in Nyon. So steht es in Grafströms Mail an Vesel, die der SZ vorliegt, verfasst am 18. April 2017. Also sechs Tage nach diesem angeblichen Meeting. Ein Termin allerdings, der niemals stattfand - und der für besagten 12. April auch nie geplant gewesen sein konnte. Denn der Uefa-Präsident Aleksander Ceferin weilte an jenem Tag in Armenien auf Staatsvisite, traf Minister, Präsidenten und das Kirchenoberhaupt. Solche Termine werden Monate im Voraus geplant.
Vesel, der fürstlich besoldete Oberaufseher, will sich zur Privatflug-Causa, in der ihm eine glatte Lüge aufgetischt wurde, partout nicht äußern. Der Flug sei "compliant" gewesen, teilt die Fifa nur mit. Ende der Durchsage. Und Vesel schweigt auch in Bezug auf eine andere bizarre Gefälligkeit für Infantino - bei der es ebenfalls um dessen Flug-Faible ging.
Im November 2016 bekam Vesel diese Sache auf den Tisch: Der Fifa-Boss wollte auf Einladung des russischen Sportministers im Privatjet von Moskau zur Klub-WM-Auslosung nach Kasan düsen. Vesel fand das okay - aber halt nicht so restlos okay, wie es das Präsidentenbüro wünschte. Am 17. November schickte er Grafström seine Flugbewilligung zu. Der sandte sie fünf Tage später an Vesel retour: "Bitte beachte die beigefügte Version, die ich von M. erhielt."
M. steht für einen eng mit der Fifa-Spitze verbandelten Anwalt. In M.s Version finden sich zwei dreiste Zusätze. Der wesentliche soll sogar den Schlusssatz im "Fazit" bilden, er lautet: "Abschließend bestätige ich hiermit, dass die Annahme der Möglichkeit, das Angebot des/der erwähnten Fluges/Flüge anzunehmen, weder gegen Verpflichtungen des Fifa-Präsidenten aus seinem Vertrag mit der Fifa noch gegen andere Fifa-Regeln verstößt."
Tags darauf schickte Vesel sein überarbeitetes Dokument an Grafström zurück. Und siehe an: Er belässt darin die von oben erlassene Formulierung komplett und etikettiert sie nun als seinen "Beschluss".
So läuft das ab bei der großartig reformierten Fifa: Infantinos Leute schreiben dessen Aufpasser Vesel direkt vor, was dieser ihnen gern "abschließend bestätigen" will. Völlig unabhängig natürlich.
Bemerkenswert ist: In der überarbeiteten Version klingt die Sache grundsätzlich. Es geht nicht mehr nur um einen Flug, sondern um Flüge generell. Warum? Fakt ist, dass Infantino zu jenem Zeitpunkt schon öfter Ärger mit luxuriösen Jetreisen auf Kosten Russlands, Katars oder auch eines russischen Oligarchen hatte. Von Vorgänger Sepp Blatter übrigens ist nicht bekannt, dass seine Mutter mit dem Flieger eines usbekischen Rohstofftycoons von einem Besuch beim Papst nach Hause geflogen wäre. Von Infantino schon.
Wohl dem, der sich Aufseher wie Rojas und Vesel leisten kann. Die verfuhren stets großzügig mit dem Boss, obwohl der in nur vier Jahren Amtszeit zahlreiche Skandale aneinanderreihte - nicht nur mit Blick auf Jet-Reisen und stille Lauber-Dates.
Nun läuft die PR-Kampagne der Fifa für Gianni Infantino auf Hochtouren. Neuerdings singt auch Jean-Pierre Méan, vormals Chef der Schweizer Sektion von Transparency International, Loblieder auf die Integrität der Fußballbosse. Binnen weniger Tage, so der Lausanner Anwalt, will er Gewissheit erlangt haben, dass sich der Weltverband unter Infantino "tatsächlich reformiert" und es "verdient" habe, "dass dieser Umstand anerkannt" werde; zumal im Vergleich mit der Ära des Vorgängers.
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Dabei wurde Infantinos Vorgänger Blatter im Herbst 2015 von den unabhängigen Ethikchefs Borbély und Eckert im Handumdrehen aus dem Amt gefegt, als ruchbar wurde, dass die Bundesanwaltschaft (BA) gegen ihn ermittelt. Blatter ist bis heute gesperrt, obwohl die BA sogar Teile der Ermittlung eingestellt hat. Jetzt bei Infantino tat sich: gar nichts.
Aber PR-Nummern bestehen nun mal aus heißer Luft. Und so verpufft auch Méans Flankenschutz, bei dessen Statements ja, unausgesprochen, die Autorität von Transparency International mitschwingt. Tatsächlich sähe die Organisation ihren klingenden Namen aber lieber nicht ins Thema untergemischt. Auf SZ-Anfrage, ob und inwieweit der flammende Fifa-Fürsprecher und frühere Schweizer Sektionschef Méan für Transparency sprechen könne, teilt deren Geschäftsführer Martin Hilti mit: "Die von Herrn Méan kürzlich gegenüber Medien gemachten Aussagen zur Fifa erfolgten im Rahmen eines persönlichen Mandats von Herrn Méan für die Fifa. Sie stehen ohne jeglichen Bezug zu seinen früheren Tätigkeiten als Gremienmitglied von TI Schweiz."
Auch die grundsätzliche Position von Transparency weicht deutlich von der des früheren Topvertreters ab: "Die derzeit im Raum stehenden Vorwürfe sind besorgniserregend und müssen gründlich aufgeklärt werden. TI Schweiz begrüßt, dass entsprechende Arbeiten laufen", sagt Hilti.
Ernsthafte Untersuchung, seriöse Aufklärung kann nur von außen erfolgen. Und jetzt geht es nicht mehr um Infantino allein - Experten wittern auch im Verhalten der Aufseher mögliche strafrechtliche Substanz. Denn wenn Leute innerhalb einer vierjährigen Amtszeit mit Millionenbeträgen entlohnt werden, aber nur Sichtblenden für die Verbandsspitze aufstellen, der sie eigentlich auf die Finger schauen müssten, dann regen sich Fragen zur Geschäftstreue. Rojas' Papier mag beruhigend für Infantino gewesen sein, für Sonderstaatsanwalt Keller dürfte es viel wertvoller sein. Es kann klare Sicht schaffen.