Formel 1:Das große Dilemma bei Ferrari

F1 Grand Prix of Brazil

Enges Duell: Charles Leclerc gegen Sebastian Vettel in der Formel 1.

(Foto: Getty Images)
  • Das folgenreiche Duell zwischen Vettel und Leclerc zeigt, dass es beim Formel-1-Rennstall Ferrari einige Probleme gibt.
  • Es scheint ungeklärt zu sein, welcher der beiden Fahrer die Nummer eins ist - und wer der Helfer.

Von Philipp Schneider

Es ist eine Aufführung mit subtilem Unterhaltungswert, die sie bei der Scuderia Ferrari seit dieser Saison in ihrem Motorhome an den Sonntagen aufführen. Nach jedem Rennen schieben sie drei Stühle auf eine Bühne. Auf die Stühle setzen sich drei Protagonisten, und deren Sitzordnung ist stets dieselbe: Links hockt der Rennfahrer Sebastian Vettel, rechts der Rennfahrer Charles Leclerc.

Und in der Mitte ragt wie eine spanische Wand, man muss das wirklich so sagen, er ist ja schlank und groß gewachsen und dem Raumteiler auch in seiner Funktion nicht unähnlich, der Teamchef Mattia Binotto empor. Diese Anordnung hat sich aus Sicht von Ferrari bewährt. Sie taugte schon viele Male als Kulisse für ein Verwechslungskomödie, bei der sich argwöhnische Zuschauer fragten: Sind die zwei Darsteller, die sich gerade so unheimlich gerne haben, tatsächlich dieselben Menschen, die sich gerade noch auf der Strecke gegenseitig behindert und mit hintersinnigen Funksprüchen überzogen haben?

Am Sonntag gab es keine neue Vorstellung im Illusionstheater von Ferrari, obwohl sie im Programmheft wieder einmal angekündigt worden war. Am Sonntag erschien die Trennwand allein.

Die künstliche Fassade bei Ferrari

"Es geht nicht darum, etwas zu managen, es geht darum, zu erkennen, was die Fehler waren", sagte Mattia Binotto. Vettel und Leclerc saßen nicht neben ihm, und das ließ nun einen Schluss zu: Offensichtlich hatten sie beide Fehler erkannt. Und zwar beim jeweils anderen. Wäre die theoretische Option zu realisieren gewesen, gemeinschaftlich einzuräumen, dass sie beide Fehler begangen hatte, dann wäre die Bühne wie üblich besetzt gewesen.

Unmittelbar nach dem Rennen hatte Binotto seinen Angestellten für die Kurzinterviews mit den Fernsehsendern noch die Gebrauchsanweisung mit auf den Weg gegeben: "Das einzige, was ich von ihnen vor den Mikrofonen gern hören würde, ist, dass es ihnen leidtut fürs Team." Diese künstliche Fassade aber wäre wohl in sich zusammengefallen in einer ausgeruhten Frage-Antwort-Runde mit der Presse. Und ein Unfall genügte Binotto an diesem Tag.

20 Rennen hat es gedauert, ehe geschah, womit seit dem Saisonauftakt, spätestens aber nach den Rangeleien in Monza und Sotschi, zu rechnen gewesen war: Der viermalige Weltmeister Vettel und sein für einen Lehrling viel zu schneller Teamkollege Leclerc kollidierten beim Großen Preis von Brasilien erstmals auf der Strecke. Beide schieden aus. Ferrari blieb ohne Punkte. Der zweite Platz in der Konstrukteurswertung war dem Team zwei Rennen vor Saisonende ohnehin nicht mehr zu nehmen. Deshalb, sagte Binotto, habe er sich dazu entschieden, seine Piloten auf dem Autodromo Jose Carlos Pace von Interlagos "frei fahren" zu lassen, wie es so schön heißt. Und frei wie die Vögel fuhren Vettel und Leclerc tatsächlich in Runde 66 von 71 - als es nur noch darum ging, wer Vierter und wer Fünfter werden würde.

Valtteri Bottas war mit seinem Mercedes liegen geblieben, die Rennleitung schickte das Safety Car auf die Strecke. Vettel verlor in diesem Moment seinen Vorsprung von 18 Sekunden auf den Teamkollegen, der die verlangsamte Fahrt zudem noch dazu nutzte, sich frische Reifen aufziehen zu lassen. Vettel hatte schon vor dem Aus von Bottas an der Box gehalten. Als das Rennen sechs Runden später wieder freigegeben wird, schießt erst Alex Albon mit seinem Red Bull an Vettel vorbei, kurz darauf überholt ihn Leclerc mit einem knallharten Manöver in der ersten Kurve.

Auf der folgenden Gerade setzt Vettel zum Konter an: Er scherte nach rechts aus, überholt. Als die nächste Kurve naht, ist er mindestens auf gleicher Höhe, aber Leclerc lässt ihm kaum Platz. Vettel zieht, weil die Alternative ein Bremsmanöver gewesen wäre, trotzdem nach links - die Berührung der Autos reißt Leclerc das rechte Vorderrad ab. Dieses wiederum schlitzt Vettel den linken Hinterreifen auf. Und raus sind beide Duellanten.

Unmittelbar nach dem Rennen wollte Binotto keinem seiner Fahrer die alleinige Schuld geben. Er wolle den Unfall in Ruhe in Maranello auswerten und erst urteilen, wenn ihm alle Daten vorlägen. Die Folge einer kollektiven Dummheit, sagte Binotto, sei er aber in jedem Fall gewesen: "Frei kämpfen heißt nicht, dumme Dinge zu tun. Vor allem nicht, wenn es sich um zwei Ferrari handelt." Damit war Binotto sicher ziemlich nah dran an der Wahrheit. Auch wenn die Piloten in ihren Kurzauftritten vor den Kameras bei ihren Argumentationslinien blieben, der jeweils andere trage die Schuld.

Erschwerende Situation für Vettel

Psychologisch betrachtet kam in der Rennsituation für Vettel erschwerend hinzu, dass sich sein zehn Jahre jüngerer Teamkollege von Startplatz 14 beeindruckend vorgekämpft hatte vor seinem Überholmanöver. Vettel, der als Zweiter ins Rennen gerollt war, hatte es verständlicher Weise eilig, seinen Konter zu setzen. Als ihm dann dämmerte, dass das Rennen für ihn vorbei sein würde, fluchte er allen Ernstes das herrlich volkstümliche Wort "Bockmist" in sein Mikrofon. Auf Deutsch. Darauf muss man auch erst mal kommen in so einem Moment, nach einem Abflug mit Tempo 300, selbst wenn man auf einem Bauernhof im Kanton Thurgau wohnt, wo Böcke garantiert zur Nachbarschaft gehören.

Mattia Binotto ist erst vor der Saison vom Technikchef zum Teamchef befördert worden. Und nun ist er zum ersten Mal gefordert in einer Rolle, die seinen Rivalen Toto Wolff bei Mercedes einst fast zermürbte: Er muss schlichten und therapieren. Als 2016 das Duell zwischen Lewis Hamilton und dem späteren Weltmeister Nico Rosberg eskalierte und sie sich regelmäßig von der Strecke räumten, da gab Wolff zwar spät, aber immerhin irgendwann, einen Verhaltenskodex raus.

Wer wird künftig die Nummer eins, wer die Nummer zwei?

Nun sei es an der Zeit, kündigte Binotto in Brasilien an, "die internen Regeln vor der kommenden Saison noch einmal zu klären, damit das in der Zukunft nicht noch einmal passiert". Leitplanken zum unfallfreien Verhalten auf der Strecke können nicht schaden bei Ferrari. Wenn die Dominanz von Mercedes 2020 gebrochen werden soll, wenn sie in Maranello endlich den ersten Fahrertitel seit 2007 feiern wollen. Und wenn es dabei bleibt, dass sich Binotto nicht auf eine Nummer eins festlegt, die in allen Rennsituation bevorzugt wird. Das wird er kaum verfügen.

Wer sollte das Team denn überhaupt anführen? Der viermalige Weltmeister? Oder doch dieser jetzt schon dem Talentstatus entwachsene Rennfahrerriese, der gleich in seinem ersten Jahr bei Ferrari mehr Pole Positionen und mehr Siege vorlegte als der viermalige Weltmeister? Den einen zur Nummer zwei zu machen, verbietet der Respekt. Den anderen zur Nummer zwei zu machen, verbietet der Verstand.

"Es ist immer noch ein Luxus, diese beiden Fahrer zu haben, es sind zwei sehr gute Piloten", sagt Binotto. Und für die Formel 1 wäre es ein Jammer, würde einer von ihnen künstlich ausgebremst werden.

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