Süddeutsche Zeitung

Formel 1:Sätze, scharf wie ein Dolch

  • Sebastian Vettel muss erstmals in der Formel 1 fürchten, nur noch die Nummer zwei in seinem Team zu sein.
  • Sein Teamkollege Leclerc wird für seinen Heimsieg in Monza gefeiert - Vettel ist niedergeschlagen.
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Von Philipp Schneider, Monza

Im Hintergrund, sozusagen im toten Winkel von Sebastian Vettel, der vorne auf einem Stuhl sitzt, wippt nun auch noch der Pokal ins Bild. Eine Mitarbeiterin der Scuderia Ferrari hält ihn eng umklammert - weil er so schwer ist, oder weil sie ihn so gern hat, wahrscheinlich aus beiden Gründen. Sebastian Vettel mag Pokale, das hat er mehrmals erzählt. Er schätzt sie in all ihren Größen und Formen, 52 Exemplare hat er allein in der Formel 1 gesammelt, sie sind ihm nicht egal wie vielen anderen Sportlern. Und der Pokal, der beim Gran Premio d'Italia verteilt wird, sieht beeindruckend aus. Er ist seiner Bedeutung für die Italiener angemessen wuchtig und ähnelt dem Turm, in dem sich der böse Zauberer Saruman in Tolkiens Herr der Ringe allerlei Gemeinheiten ausdenkt.

Die Frau mit dem Pokal wackelt unschlüssig von einem Bein auf das andere, sie guckt zu Ferrari-Chef Mattia Binotto, ihre Augen fragen: Soll ich ihn reintragen? Sie soll ihn nicht reintragen. Der Pokal ist fantastisch, genau wie das soeben beendete Rennen in Monza, das steht außer Frage. Aber der Pokal ist der von Charles Leclerc. Er ist der Pokal des gesamten Teams, vom Mechaniker über den Koch, über den Ingenieur bis zum Teamchef. Aber er ist nicht der Pokal von Sebastian Vettel.

Leclerc ist in diesem Moment noch nicht einmal eingetroffen im Motorhome von Ferrari, er hat den wohl schönsten Tag seiner Karriere erst feiern müssen mit den tausenden Tifosi, die sich im roten Konfettiregen auf den ersten Rennsieger in einem roten Wagen in Monza seit 2010 gestürzt haben wie ein Wanderer auf ein Glas Wasser nach Durchquerung der Sahara. Nur Vettel sitzt schon da. Nach seinem 13. Platz in einem Rennen, in dem ihm ohne Not ein Fehler in der Ascari-Kurve unterlaufen war, was ja passieren kann. Danach war er allerdings wie ein blinder Rennfahrer auf die Strecke zurückgekehrt und hatte den Wagen von Lance Stroll touchiert, was einem viermaligen Weltmeister nicht passieren sollte. Dafür erhielt er die Strafe, zehn Sekunden in der Box zu parken.

Vettel war noch nie die Nummer zwei in einem Team

Um den Rennsieg fuhr er nicht mehr. Stattdessen wurde Vettel überrundet, genau wie Pierre Gasly im Toro Rosso und George Russell im Williams. Seine Sicht auf den Verkehr sei in dem Winkel, in dem sein Auto neben der Strecke parkte, verstellt gewesen von der Cockpitverkleidung, erklärt Vettel nun. Er trägt eine ferrarirote Jacke mit einem hoch aufgestellten Kragen, in den er seinen Kopf nicht so weit einziehen kann, dass ihn die Journalisten gar nicht mehr sehen könnten. Er sagt: "Es war ein guter Tag für das Team. Aber ein schlechter für mich."

Sieben Tage zuvor hatte Leclerc den Grand Prix in Spa-Francorchamps gewonnen, das erste Formel-1-Rennen seiner Karriere. Auch, weil ihm Vettel geholfen hatte, indem er Lewis Hamilton ein paar entscheidende Runden gebremst hatte. Als Puffer, als Wasserträger, als Gehilfe seines elf Jahre jüngeren Teamkollegen. In Monza war es anders. Diesmal hatte Leclerc gewonnen, obwohl ihm Vettel überhaupt nicht hatte helfen können. Und Leclerc spricht diesen Umstand am Sonntag auch noch aus. Er sagt: "Ich musste alleine gegen zwei Gegner kämpfen. Sie konnten die Strategie splitten und haben mich die ganze Zeit unter Druck gesetzt." Ein Satz so scharf wie ein Dolch. Gezielt auf Vettel und die Hierarchie im Herzen der Scuderia.

Vor dem ersten Rennen in Melbourne hatte Teamchef Binotto angedeutet, dass Vettel in Rennsituationen, in denen beide Fahrer Chancen haben, bevorzugt werden könnte. Danach war Binotto viel zu schlau, um die Fragen nach einer teaminternen Hackordnung mit Bestimmtheit zu beantworten. Mit Leichtigkeit ist er ihnen stets ausgewichen und am Sonntag erneuerte er sein Versprechen, dass beide Fahrer auf Augenhöhe um die Rennsiege fahren. Aber für Vettel ist das Datum, an dem Leclerc in Monza den Pokal überreicht bekam, ein entscheidender Tag in seiner Karriere. Seit er sich 2008 in einen Toro Rosso setzte, war er nie die Nummer 2 im Team. Im für ihn besten Fall ist er dies bei Ferrari noch immer nicht. Aber eine Nummer 1 ist er auch nicht mehr, sofern er es denn je war.

Vettel fuhr einst neben Sébastien Bourdais, dann bei Red Bull mit Mark Webber und später mit Daniel Ricciardo, der sich erst in Vettels letztem Jahr im Team mit ihm duellieren durfte. Bei Ferrari stellten sie ihm Kimi Räikkönen zur Seite, einen Stoiker, der seit Jahren wirkt, als habe er schon alles erreicht. Dann kam Leclerc.

Viel zu früh, argwöhnten manche. Wer ist so unseriös und setzt einen 21-Jährigen nach nur einem Jahr Formel 1 in einen Ferrari? Doch Leclerc ist ein Streber, ein Schwamm. Er saugt jeden Rückschlag auf und recycelt ihn in ein höherwertiges Produkt. In Bahrain, als sein Motor streikte kurz vor einem im Grunde sicheren Sieg, da lernte er, mit Enttäuschungen umzugehen. In Aserbaidschan war Leclerc der Trainingsschnellste, setzte aber seinen Ferrari in der Qualifikation gegen eine Mauer in Bakus Altstadt und rief in sein Helmmikrofon: "Ich bin dumm, ich bin dumm!" In diesem Moment lernte er, dass er am Samstag konzentrierter fahren muss. Er erhob die Qualifikation zu seinem Spezialgebiet: In Monza war Leclerc zum siebten Mal nacheinander schneller als Vettel.

Beim Rennen in Spielberg erhielt Leclerc die finale Lektion. Sie machte ihn zu dem harten Rennfahrer, der er jetzt schon ist. Kurz vor Schluss ließ er sich einen möglichen Sieg von Max Verstappen wegschnappen, der ihn mehr oder weniger von der Strecke drängte. Leclerc begriff: Aha, so also wird gefahren in der Formel 1! In Monza hielt er voll dagegen, als ihn Hamilton überholen wollte, drängte ihn von der Strecke. "Ich habe seit Spielberg meine Einstellung geändert und das hat mir heute dabei geholfen zu gewinnen. Das Manöver war natürlich nah am Limit", sagte er.

"Dann brauchen wir eine Polizeieskorte, um hier rauszukommen"

Das war es. Die Rennkommissare verwarnten ihn. Als er daraufhin auch noch geradeaus in einer Schikane fuhr, da hätte die Verwarnung ganz wunderbar in eine Strafe umgewandelt werden können. Vettel hatte in Kanada in einer ähnlichen Szene eine Zeitstrafe erhalten. Und das ohne vorher bereits verwarnt worden zu sein. "Was soll man machen? Ferrari in Monza eine Fünf-Sekunden-Strafe geben?", fragte Mercedes-Teamchef Toto Wolff: "Dann brauchen wir eine Polizeieskorte, um hier rauszukommen." Auch Hamilton bekundete seine Verwunderung. Er wolle in einem ruhigen Moment mal privat mit Leclerc reden und ihn fragen, ob es für ihn okay wäre, wenn er sich künftig auch so verteidige. "Wenn das so ist, ist es okay. Wir wollten härteres Racing, jetzt haben wir es. Wir brauchen nur Beständigkeit in den Entscheidungen", sagte Hamilton.

Sebastian Vettel hätte die Sonderbehandlung Leclercs ebenfalls thematisieren können. Er hätte auch abermals grollen können über die unfairen Vorkommnisse der in vielerlei Hinsicht bizarren Qualifikation am Vortag. Da hatten die Fahrer allesamt Stehversuche unternommen, um keinem anderen Piloten Windschatten zu gönnen, was letztlich zur Folge hatte, dass Vettel keine entscheidende Runde im Windschatten Leclercs fahren durfte. Teamintern war das ursprünglich ausgemacht gewesen, und am Samstag noch hatte Vettel sich auch öffentlich beschwert. Aber nach dem Rennen sagte Binotto: "Ja, es gab ein paar Diskussionen mit Charles. Aber jetzt haben wir ihm schon wieder alles vergeben, was er getan hat."

Mal sehen, ob ihm Vettel auch vergeben hat. Am Sonntag steckte Vettel tief in seinem Kragen und sagte nicht viel. Denn Leclercs Pokal war auch der von Ferrari. Und Ferrari steht für Vettel über allem.

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SZ vom 10.09.2019/ebc
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