Süddeutsche Zeitung

Felix Neureuther im Riesenslalom:Vorstoß in eine unerklärliche Dimension

Ligety, Hirscher, Pinturault - bisher schien es, als sei Olympia-Gold im Riesenslalom einem Kreis von drei Athleten vorbehalten. Jetzt erweitert Felix Neureuther diese Elite, überrascht damit die Branche - und sich selbst.

Von Christof Kneer und Michael Neudecker

Natürlich ist die Geschichte kitschig, aber das kann man Felix Neureuther nicht zum Vorwurf machen. Kann er denn was dafür, dass es fast 41 Jahre gedauert hat, bis ein deutscher Alpiner wieder einen Weltcup-Riesenslalom gewonnen hat? Kann er was dafür, dass der bisher letzte Sieger - der Rieger Max - ein Freund der Familie Neureuther ist? Und kann er was dafür, dass der Rieger Max nach Neureuthers Sieg ankündigte, zur Feier des Tages "ein Glaserl" zu trinken und dass er außerdem bekannt gab, er kenne "den Felix schon, seit er ein Baby war?"

Felix Neureuther kann nichts dafür. Er hat Eltern, bei denen es sich nicht vermeiden lässt, dass sie die ganze Skiwelt kennen und die ganze Skiwelt sie, und er kann auch nichts dafür, dass ihm Rosi Mittermaier und Christian Neureuther ihre imposanten Alpin-Gene vererbt haben.

Wofür er aber etwas kann, das ist dieser zweite Riesenslalom-Durchgang von Adelboden: Der war von dermaßen beängstigender Qualität, dass er nicht nur von Platz sieben auf Platz eins sprang, dass er nicht nur 1,32 Sekunden auf den führenden Franzosen Thomas Fanara auf- und den großen Österreicher Marcel Hirscher überholte - dieser Lauf hatte auch eine so unerklärliche Dimension, dass später jede Erklärung gerne genommen wurde, egal, ob fachlich, psychologisch oder historisch-kitschig.

Die Geschichte von Neureuthers Riesenslalom-Sieg ist eine, aus der sich je nach Geschmacksrichtung all diese Aspekte herauslesen lassen, aber vor allem ist es eine Geschichte, mit der noch vor ein paar Wochen niemand gerechnet hat, am wenigsten Neureuther selbst.

So steil, dass man den Berg nicht sieht

Dass er ein überragender Kurvenfahrer ist, das wussten alle (inklusive er selbst), und daran hat sein Ausscheiden im Slalom am Sonntag nichts geändert. Slalom ist die Disziplin, in der ihn sogar der große Österreicher Marcel Hirscher fürchtet - aber Riesenslalom? Und dann noch in Adelboden, am berüchtigten Chuenisbärgli, dessen Steilhang so steil ist, dass man an der Einfahrt den Berg vor den Füßen nicht mehr sieht?

Die aktuelle Saison ist eine sog. Olympiasaison, man hört das jedes Wochenende aus jedem Athleten- und Trainermund, in drei Wochen beginnen die Spiele in Sotschi. Es sind womöglich die letzten Olympischen Spiele für Neureuther, er wird im März 30, aber das ist nur das Alter, das im Ausweis steht.

Besäße sein Körper einen eigenen Ausweis, würde eine andere Jahreszahl drin stehen, Felix Neureuthers Körper ist in vielen Jahren Hochleistungssport schneller gealtert als Felix Neureuther. Der Rücken, die Knie, alles tut immer irgendwie weh bei einem Rennfahrer wie ihm, er hat schon einmal angedeutet, dass er nicht genau weiß, wie lange er seinem Körper die Belastungen noch zumuten will. Diese Saison hat in dieser Hinsicht besonders ungünstig begonnen, nämlich: gar nicht.

Skirennfahrer beginnen im Sommer mit ihrem Programm, sie trainieren auf der anderen Seite der Welt auf Schnee, aber Neureuther lag auf dieser Seite der Welt auf der heimischen Couch, als seine Kollegen die ersten Schwünge setzten. Im Juni haben sie ihm in Zürich ein Geschwulst am Knöchel entfernt, für Skirennfahrerbegriffe ein kleinerer Eingriff, aber weil bei der Operation die Haut am Innenknöchel beschädigt wurde, wurden aus zwei Wochen Pause vier Monate Pause.

"Wie eine alte Frau" habe er sich gefühlt, sagt Neureuther, der jetzt wieder Ski fährt wie ein junger Mann.

Mindestens 30 Trainingstage fehlen ihm im Vergleich zur Konkurrenz, aber dass er im Slalom trotzdem konkurrenzfähig sein würde, daran hat kaum einer gezweifelt. "So schnöö, so schnöö", sei der Felix, hatte Marcel Hirscher schon vor dem Saisonstart gesagt (für Nicht-Österreicher: so schnell, so schnell). Slalom wird mehr als andere Disziplinen durch Faktoren wie mentale Stärke und Rhythmusgefühl entschieden, Slalom ist die Disziplin, in der genetisch begünstigte Menschen eher ihren Trainingsrückstand tarnen können. Aber, noch mal: im Riesenslalom? In Adelboden?

Im Riesenslalom hat der Weltverband vor der vergangenen Saison das Reglement verändert, seitdem werden weniger taillierte Ski eingesetzt, was die anspruchsvolle Basisdisziplin des Skirennsports noch anspruchsvoller gemacht hat. Neureuther ist die Umstellung zwar entgegengekommen, er gehört seitdem auch im Riesenslalom zur Weltspitze, aber in einer Disziplin, in der das ständige Testen und Tüfteln inzwischen zur Voraussetzung für die richtige Renngeschwindigkeit geworden ist, gilt Trainingsrückstand mehr denn je als Problem. Und es gibt in der Weltspitze des Riesenslaloms keinen mit größerem Trainingsrückstand als Felix Neureuther.

Warum ist der Bursche so schnell? Einer musste ja den Rieger-Fluch beenden, das ist der historische Aspekt. Er hat wohl das passende Set-up aus Ski, Schuh und Bindung gefunden, das ist der fachliche. Und Alpinchef Wolfgang Maier verweist noch auf einen psychologischen: Er sagt, der Skiverband und die Familie Neureuther hätten sich "mehr angenähert in den Philosophien, wie man Erfolg erzielen kann", es sei ja erkennbar gewesen, dass die Ausgliederung Neureuthers mit eigenem Trainer "nie richtig geklappt" habe.

Ohne Rücksicht auf den Trainingsrückstand

Nach der WM 2011 in Garmisch habe er sein "Jahrhunderttalent" daher vor eine "knallharte Entscheidung" gestellt: "Entweder er kommt in die Mannschaft, oder die Familie Neureuther muss einen eigenen Trainer finanzieren." Die Integration in die Mannschaft habe Neureuther offensichtlich gut getan.

Am 26. Februar 2012 hat der Italiener Massimiliano Blardone einen Riesenslalom gewonnen, er war der bisher letzte Weltcup-Sieger in dieser Disziplin, der nicht Ted Ligety, Marcel Hirscher oder Alexis Pinturault hieß. Der Amerikaner, der Österreicher und der Franzose würden in Sotschi die Riesenslalom-Medaillen unter sich ausmachen, davon war die Branche bis Adelboden überzeugt.

Jetzt gibt es plötzlich noch einen vierten Athleten, es ist einer, der partout keine Rücksicht darauf nehmen will, dass man mit Trainingsrückstand im Riesenslalom überhaupt keine Chance haben kann.

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Quelle:
SZ vom 13.01.2014/jkn
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