Fehlstart bei der Leichtathletik-WM:Rote Karte für Usain Bolt

Binnen eines Moments wandelt sich der pfeilschnelle Witzbold zu einem ohnmächtigen Mann: Wegen eines absurden Fehlstarts wird der Weltrekord-Inhaber Usain Bolt im WM-Finale über 100 Meter disqualifiziert. Es gewinnt sein Trainingskollege Yohan Blake.

Thomas Hahn

Auf einmal war der Spaß vorbei bei der Leichtathletik-WM in Daegu/Südkorea. Usain Bolt, der lustige Sprintpantomime, pfeilschnelle Witzbold und Komödiant des Startblocks, hatte sich binnen eines Augenblicks in einen ohnmächtigen Mann verwandelt.

Fehlstart bei der Leichtathletik-WM: Eindeutige Angelegenheit: Usain Bolt auf Bahn fünf springt viel früher aus dem Startblock als erlaubt.

Eindeutige Angelegenheit: Usain Bolt auf Bahn fünf springt viel früher aus dem Startblock als erlaubt.

(Foto: AP)

Er war an einer sehr einfachen, harten Regel seines Sports gescheitert, die erst in der zweiten Saison so ist, wie sie jetzt ist: Der erste Fehlstart beim 100-Meter-Lauf führt zur Disqualifikation, egal, wer ihn begeht, ob ein Dreifach-Weltrekordler, -Weltmeister, -Olympiasieger oder ein Gastläufer aus Burundi.

Usain Bolt wusste es sofort. Er war raus. Er riss sich sein Trikot vom Leib, er blickte ungläubig ins Nichts, er sah die rote Karte und wandte sich ab. Die Entscheidung war nicht einmal knapp gewesen. Es war ein fast absurder Fehler, wie er einem erfahrenen Sprinter, der so überlegen ist wie Usain Bolt, eigentlich gar nicht passieren kann.

Weltmeister ist dann trotzdem ein Jamaikaner geworden, sogar ein Trainingspartner von Bolt unter Nationaltrainer Glen Mills: Yohan Blake, 21, nutzte die Gunst des Augenblicks zu einem Sieg in 9,92 Sekunden. Walter Dix aus den USA wurde Zweiter in 10,08 Sekunden und den kuriosen Ausgang dieses Finals machte der Umstand komplett, dass Kim Collins, 35, der fröhliche Alt-Weltmeister von 2003, Sprint-Idol von der karibischen Inselgruppe St. Kitts and Nevis, die Bronzemedaille gewann (10,09) vor dem Franzosen Christophe Lemaitre (10,19).

Aber natürlich war dieses Ergebnis schnell vergessen. Yohan Blake, der 2009 eine Drei-Monatssperre wegen eines positiven Tests auf das Stimulans Methylhexanamin hatte absitzen müssen, machte sich zwar keineswegs klein vor diesem Erfolg. Er sagte: "Ein Traum ist wahr geworden." Aber er wusste ganz genau, dass sein Gold-Gewinn verschwand hinter diesem seltsamen Fehlstart, der Jamaikas Jubel über den bekennenden Lebemann Bolt ziemlich umgehend in eine ziemlich ätzende Stimmung gegen ihn wenden dürfte.

Der schnellste Mann der Welt, als welcher der neue Weltmeister später bei der Pressekonferenz vorgestellt wurde, ist Yohan Blake jedenfalls nicht. Das ist Usain Bolt, keine Frage. Die Eindrücke, die Bolt in Vorlauf und Semifinale hinterlassen hatte, waren zu eindeutig, um an etwas anderes zu glauben.

15 Millionen im Jahr

Die Zweifel, die Bolt nach einer abgebrochenen Saison 2010 und für seine Verhältnisse mittelprächtigen Rennen in dieser Saison angehäuft hatte, waren schon nach wenigen Schritten in Daegu zerstreut. Bolt grimassierte und scherzte wie bei seinen Weltrekord-Auftritten bei Olympia 2008 in Peking und bei der WM 2009 in Berlin. Dann startete er, legte rasch zehn Meter zwischen sich und den Rest und ließ es nach 40 Metern gut sein: 10,10 Sekunden, Halbfinale erreicht. Dort bremste er dann auch ab, ehe er mit 10,05 als Sieger gestoppt wurde.

Bolt zeigte wieder diese unwirkliche Spritzigkeit, mit der er die 1,96 Meter seines riesenhaften Körpers wie selbstverständlich auf Höchstgeschwindigkeit bringen kann. Wenn man sich daran erinnerte, wie bemüht er vorher bei seinen Auftritten in der Diamond League ausgesehen hatte, wirkte es fast so, als habe da jemand bei ihm einen Schalter umgelegt und einen anderen Bolt aktiviert, eine Art Meisterschafts-Bolt, der nun wieder zum besonderen Spektakel fähig war.

Es war klar: Bolt würde gewinnen und seinen Marktwert vielleicht noch steigern, der ohnehin schon astronomisch hoch ist, wie die Zahlen zeigen, die zuletzt die Sportzeitung L'Équipe aufführte: 15 Millionen Dollar Jahreseinnahmen, 300 000 Dollar Antrittsgage pro Meeting.

Und dann das.

Früher im Jahr war eher sein Problem, dass er zu spät startete. "Ich verstehe nicht, warum ich im Training den Start hinkriege und hier nicht", sagte er, nachdem er in Monaco 9,88 gelaufen war. Jetzt war er zu früh dran. Warum verstand keiner.

War es der Druck? Druck spürt Bolt ja angeblich nicht, das hat er zuletzt erst wieder gesagt: "Den einzigen Druck, den ich spüre, ist der, unter den ich mich selbst setze." Startern oder Geräuschen aus dem Publikum die Schuld zu geben, funktionierte nicht. "Die Starter waren gut", sagte Walter Dix. "Es war ziemlich ruhig", sagte Yohan Blake. Bolt sagte gar nichts. Der Leichtathletik-Weltverband IAAF zitierte ihn später am Abend in einem Statement: "Ich habe gerade nichts zu sagen. Ich brauche etwas Zeit." Aus seinem Spiel war für ihn auf einmal Ernst geworden.

"Ich war geschockt", sagte Yohan Blake. Er konnte es gar nicht glauben. Bolt und Fehlstart? "Er ist nicht diese Art von Person." Walter Dix sagte: "Es war auf jeden Fall ein Schock." Kim Collins sagte: "Ich dachte, ich wär's gewesen." Er kicherte, und dann wurde er etwas ernster, denn das absolute Fehlstartverbot, welches seit 2010 gilt und 2009 auf dem IAAF-Kongress in Berlin mit 97 Ja- zu 55 Nein-Stimmen beschlossen wurde, ist umstritten.

Collins fand es im Interesse der Show nicht sehr glücklich, dass Bolt sofort des Feldes verwiesen wurde. "Leute auf der ganzen Welt wollten ihn heute Abend sehen und dazu ist es nicht gekommen. Ich glaube, wir brauchen ihn hier." Die IAAF antwortete in ihrem Statement: "Natürlich ist die IAAF enttäuscht darüber, dass Usain Bolt im 100-Meter-Finale einen Fehlstart begangen hat, aber es ist wichtig, daran zu erinnern, dass die Glaubwürdigkeit des Sports von seinen Regeln abhängt, und die müssen auch beständig und fair auf ALLE Athleten angewandt werden." Der Weltverband war bedrückt. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Er braucht Usain Bolt dringend im Kampf um Aufmerksamkeit. Aber er konnte ihn nicht schützen.

Die Fehlstart-Regel

Usain Bolt ist das bislang bekannteste "Opfer" der neuen Fehlstart-Regelung, die in der Leichtathletik seit Beginn des Jahres 2010 gilt. Danach wird ein Athlet bereits nach dem ersten Fehlstart disqualifiziert. Vorher hatte sieben Jahre lang eine Regel gegolten, die einen Fehlstart pro Rennen erlaubte. Bei einem zweiten Verstoß musste der "Sünder" die Bahn verlassen - ganz gleich, ob er zuvor den ersten Fehlstart verursacht hatte oder nicht. Die neue Regelung wurde 2009 vor der WM in Berlin vom 47. Kongress des Weltverbandes IAAF in Berlin beschlossen. Sie war vor allem bei Athleten umstritten, erhielt aber bei dem Kongress eine Mehrheit von 97:55 Stimmen. Die IAAF wollte mit der Verschärfung vor allem gegen die gängige Trickserei am Startblock vorgehen. Manche Stars nutzten die alte Regel, um mit einem gezielten Fehlstart ihre Gegner zu verunsichern. "Nun sind die Fehlstart-Zocker nicht mehr in der Lage, zu pokern", sagte der deutsche Bundestrainer Rüdiger Harksen damals. (dpa)

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