Fechten:Jenseits von Chopin

Lesezeit: 4 Min.

Lange wartete das deutsche Frauenflorett auf eine Nachfolgerin für seine Legenden von einst. Leonie Ebert könnte diese Rolle erfüllen.

Von Volker Kreisl, Düsseldorf

Die großen Griffe wurden irgendwann zum Problem. Die Spannweite zwischen der Spitze des Daumens und des kleinen Fingers war zu kurz. Andere spreizten ihre Hände mühelos, Leonie Ebert aber musste sich anstrengen, um die raffinierten Klavierstücke mit den großen Akkordgriffen sauber zu spielen. "Ich habe zu kurze Finger", sagt sie. Und damit stößt man dann an eine Grenze, da hilft einem das ganze Talent nichts und auch nicht Platz eins bei "Jugend musiziert". Eine Klavier-Tastatur für Erwachsene gibt es nun mal nicht in verschiedenen Größen.

Einen Florettgriff schon.

Die Zeit, in der sich Ebert für das Fechten und gegen Chopin oder Debussy entscheiden musste, liegt nun schon sieben, acht Jahre zurück. 19 ist sie jetzt, mit 16 zählte sie schon zu den Besten im Frauenflorett hierzulande. Frauenflorett - das ist ein Begriff, der in älteren Fechtanhängern immer noch Namen, Gesichter und ganze Medaillensätze von einst wachruft. Und nun stellt sich für den deutschen Verband und den einst mächtigen Florett-Standort Tauberbischofsheim, kurz Tauber, die Frage: Kriegen die Größen von einst - Zita Funkenhauser, Rita König, Anja Fichtel, Sabine Bau - endlich eine Nachfolgerin?

Gegen voreilige Rückschlüsse stehen die üblichen Einwände: Die Zeit war damals eine andere, auch die Art zu fechten, diese Ausnahmegeneration hat sich gegenseitig angetrieben, außerdem steht Ebert immer noch am Anfang. Dennoch sind da Indizien. Ebert befindet sich seit Monaten in den Top Ten der Weltrangliste, zurzeit steht sie auf Platz sieben. Bei der Europameisterschaft, die am Montag in Düsseldorf begann und mit der die Olympiaqualifikation für Tokio 2020 startet, gilt sie als Hoffnung der Deutschen auf eine Medaille - neben Max Hartung, dem Weltranglistenzweiten am Säbel, und der Degenfechterin Alexandra Ndolo. Das sind nur die üblichen Eckdaten des schnellen Aufstiegs; ein Indiz dafür, dass Ebert das auch durchhält, könnte der andere Grund neben ihren zu kurzen Fingern sein, das Motiv nämlich, warum sie sich freiwillig fürs Fechten entschied. Anders als Klavierspielen, sagt sie, sei dies "das perfekte Ventil".

Ebert, die wie ihre Geschwister in weiteren Sportarten aktiv war, die auch im Chor gesungen hatte, ist geladen mit Energie. Sie braucht etwas zum Abreagieren. Und zwar richtig. Auf Bahnen gegen andere zu rennen, jede schön in der Spur, und danach auf die Laufzeit zu schauen, das war für sie nichts. Was Ebert schon immer brauchte, war ein taktisch raffinierter und deshalb spürbarer Widerstand: eine Gegnerin.

Die Gegnerin auf der Planche fordert heraus und erzieht. Wie jeder Kontaktsport ist Fechten ein ständiges Versuchen, Scheitern und Wachsen. Es klappert und scheppert, und wohl nirgendwo wird während des Wettkampfs so viel gebrüllt, geflucht und mit sich selbst gehadert. Immer vielfältiger werden mit Fortlauf der Karriere die taktischen Varianten, um durch die Verteidigung der Gegnerin zu dringen. Die junge Würzburgerin Ebert war ganz in ihrem Element und landete logischerweise bald in Tauberbischofsheim. Nach ein paar Jahren gewann sie als Teil der Mannschaft Bronze bei der EM und wurde serienweise deutsche Meisterin.

Irgendwann hatte Ebert von der Unruhe am traditionsreichen Stützpunkt die Nase voll

Beteiligt an diesem Aufstieg waren auch ihre Florett-Vorfahren. Anja Fichtel, Olympiasiegerin von 1988, half Ebert anfangs als Mentorin. Und Rita König, die Silber bei den Spielen 2000 gewann, war Eberts erste Trainerin. Und dass Fichtel schon mit 20 Jahren ihr Gold in Seoul holte, "das inspiriert mich natürlich", sagt Ebert, das schon. Andererseits: So viel Lebensschule im und außerhalb des Wettkampfs hat sie nun doch schon hinter sich, dass sie sich lieber auch abgrenzt: "Ich höre auf das, was ich von mir selber erwarte, ich habe meine eigenen Ziele."

Gefochten wurde in Tauberbischofsheim, dem Stützpunkt mit den vielen mächtigen Interessensgruppen, schon lange auch jenseits des Sports. Vor zwei Jahren kam es mal wieder zu einer Krise. Intern wurden Missbrauchsvorwürfe erhoben, die nicht erhärtet werden konnten, später verlor das Zentrum aus sport-strategischen Gründen seinen Status als Olympiastützpunkt. Zuvor schon war der italienische Florett-Bundestrainer Andrea Magro entlassen worden, international eine Instanz, für den Arbeitgeber FC Tauberbischofsheim aber dann plötzlich zu teuer. Und mittendrin, in der ständigen Unruhe, war Leonie Ebert, die von Magro entdeckt und von seinem Erfahrungsschatz geprägt worden war, und dann wie das gesamte Frauen-Team irgendwann die Nase voll hatte. Anne Sauer, Carolin Golubytskyi und Ebert wählten das, was reife Fechterinnen in Bedrängnis auch wählen: Rückzug, Neuaufbau, Angriff. Die drei verließen den FC TBB, schlossen sich dem kleinen Klub im Nachbarort an, trainieren weiterhin als Nationalteam am Bundesstützpunkt Tauber, firmieren aber als Team Future Fencing Werbach.

Leonie Ebert hat in dieser Zeit also einen sehr guten Trainer verloren, dafür im Italiener Giovanni Bortolaso einen neuen gewonnen und auch sonst weitere Selbstsicherheit erlangt. Sie hat längst gelernt, dass Beständigkeit in diesem immer wieder überraschenden Sport das höchste Gut ist. Sie setzt sich kleinere Etappenziele - und größere. Sie will nicht in die Nähe ruhmreicher Olympiasiegerinnen gerückt werden, dennoch ist ihr Ziel eine Medaille mit dem Team in Tokio, vielleicht auch im Einzel, und ihr Talent und ihre Reife deuten darauf hin, dass dies klappen könnte. Alles dreht sich bei Ebert gerade um den Sport mit dem Florett und dem Griff, den sie einst passend für die Handgröße aussuchen konnte - und doch: kommt sie nach Hause, steht da immer noch das Klavier.

Das Instrument, das ihr hilft, für einen Moment alles zu vergessen. Aber die schweren Lieblingsstücke gehen eben auf die Finger, die ja zu kurz sind, und fürs Fechtgefühl kann sie Schmerzen und Irritationen nicht gebrauchen. Also klappt sie die Tasten lieber wieder zu.

© SZ vom 18.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: